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Fußball heißt jetzt Helmer

Im Aufstieg von rationalen Spielern wie Thomas Helmer personifiziert sich ein Dilemma dieser EM: Der postmoderne Fußball will seine Emotionen kalkulieren  ■ Von Peter Unfried

Macclesfield (taz) – Ein halbes Tausend Macc-Lads, Leute aus dem Städtchen und der näheren Umgebung, kam gestern gerannt, um zu sehen, wie die Kicker des DFB sich mit ein bißchen Fußballtennis und ähnlichem beschäftigten. Von der Tribüne sah der Platz des Vauxhall Conference-Clubs Macclesfield FC so schlecht gar nicht aus, wie Berti Vogts ihn zu machen pflegt. Thomas Helmer führte ein Team mit den Kollegen Schneider, Bode und Kuntz. „Er ist jetzt frei von Scherben“, hat Helmer über den Platz berichtet.

Der Rasen ist nun allerdings kein Thema, mit dem sich einer wie Helmer gerne aufhalten möchte, Fußballtennis auch kaum. Natürlich wird aber nicht nur der Ball über die Schnur gelupft, es werden vor dem Spiel gegen Rußland am Sonntag auch taktische Spielsituationen simuliert. Insbesondere wird geübt, was das deutsche Spiel derzeit nach einhelliger Meinung erfolgreich macht. Helmer nennt es das „permanente Unter-Druck- Setzen des Gegners“. Über solche Sachen kann man mit ihm gerne reden.

Thomas Helmer ist 31, und er weiß, daß er seinen späten Ruhm nicht der Tatsache verdankt, daß er plötzlich seine Fähigkeiten denen eines großes Fußballers angepaßt hätte. Es ist andersherum: Helmer stand tief links in der eigenen Hälfte – und hat seit einiger Zeit gesehen, wie der Fußball immer deutlicher auf ihn zugerollt kam. Jetzt scheint er angekommen.

Daß der Fußball bei dieser EM so gespielt wird, wie er gespielt wird, ist natürlich nicht neu. Relativ neu ist aber die intensive Auseinandersetzung damit. Wenn Bundestrainer Vogts von seinen Stürmern redet, dann hauptsächlich darüber, wie sie im Verteidigungsfall arbeiten. Verteidigung! Arbeiten!

Wenn Arrigo Sacchi die Worte Baggio und Vialli hört, dann sieht er aus, als habe er in eine saure Zitrone gebissen.

Gegen Rußland hat Sacchi Alessandro Del Piero (22) zur Hälfte rausgenommen. Nichts, was Del Piero ausmacht, hatte der zeigen können, wenig Italien. Danach kam Roberto Donadoni (32), der seine allerbesten Tage nicht mehr vor sich hat. Donadoni ist nicht mehr Donadoni. Doch mit ihm war Italien ganz Sacchis Italien. Javier Clemente hat den außergewöhnlichen Fußballer Ivan de la Pena erst gar nicht mitgenommen. De la Pena kann sein Spiel nicht garantieren.

Die Welt des Fußballers besteht aus Planquadraten. Sicherheit muß jederzeit garantiert sein. Garantierte Sicherheit ist Helmer. Nein: Er ist nicht, wie der Spiegel vermutet, „blind, was die Sehnsucht der Fans angeht, nach Schweiß, Schmerz und schönen Toren“. Helmer weiß schon, wie Fußball auch sein könnte. Aber er kann diesen Fußball nicht.

Helmer kann Englisch parlieren, sich überlegen am Dreitagebart kratzen. Aber er kann nicht Fußball spielen, daß einem das Herz stehenbliebe. Er kann den langen Paß zwar spielen. Doch wie er ihn spielt, mit der Innenseite, im 90-Grad-Winkel, wirkt es wie ein mathematischer Vorgang.

Helmer ist rational. Weil er klug ist. Aber auch weil er ein beschränkter Fußballer ist. Helmer muß nichts machen. Nichts in ihm zwingt ihn, wenn sich ihm zwei entgegenstellen, da durch zu wollen, wo ganz offensichtlich kein Platz ist.

Helmer macht alles richtig. Berti Vogts hat bei der Analyse des Tschechien-Spiels gesagt, daß er insbesondere „mit dem Zumachen auf der linken Seite zufrieden war“. Das hat Helmer besorgt. Der paßt auch auf den bisweilen zum Emotionalen neigenden Kollegen Christian Ziege auf.

Daß Thomas Helmer zu jenen gehört, die er selbst „Führungsspieler“ nennt ist kein Zufall. Sondern, sagt er, „ganz klar vom Trainer so gesagt worden“. Er ist es nicht nur, weil er seit 1990 dabei ist und gegen die Russen sein 50. Länderspiel macht. Er ist es, weil Vogts nach Jahren gemerkt hat, daß es Helmer braucht. Das war nach dem WM-Ausscheiden gegen Bulgarien, als, wie Helmer sagt, „ein grundsätzliches Überlegen über das System“ stattfand.

Inzwischen fehlt Lothar Matthäus und muß strategisch und komplex gedacht werden. Das kann Matthias Sammer. Und das kann Helmer.

„Es ist ja jetzt eine andere Position als die zweite Manndeckerrolle“, sagt er. Kohler beziehungsweise jetzt Babbel deckt den gegnerischen Angreifer. Die Position, die Helmer in Vogts' System im linken hinteren Bereich ausfüllt, ist wesentlich komplexer. Geht Helmer über die linke Seite nach vorne, „dann ist auch klar: Christian bleibt“. Da Ziege hinten ist, geht Helmer dann „auf die linke Seite“, macht „vorne zu“ – und spart dabei Kraft, weil die Laufwege bei Übergabe von Zuständigkeitsbereichen kürzer sind.

Es ist nicht unbedingt schlecht, daß man sich über die realen Vorgänge, die ein Fußballspiel determinieren, mehr und mehr Gedanken macht. Es ist nur so, daß das eine Folge eines veränderten Spiels ist. Weg von der Kunst, hin zur Beobachtung von komplexen Arbeitsvorgängen.

Es ist allerdings so, daß zum Beispiel Bild kein Interesse an Helden wie Helmer hat. Seit Tagen bemüht sich das Blatt in seiner lobenswerten Suche nach Emotion, Andreas Möllers Stern leuchten zu lassen. Doch das ist kein Problem für Helmer, denn auch er braucht den Kollegen. „Wenn der Andy seine Schnelligkeit ausspielen kann“, sagt Thomas Helmer, „ist jeder bereit, hinten einen Weg mehr zu laufen, wenn er kaputt ist.“

Beweist Möller gegen die hinten anfälligen Russen sich – beweist er auch die Überlegenheit des Systems. Das System aber heißt nicht Möller. Es heißt Helmer.

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