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Archiv-Artikel

Die Heimstatt der Sorglosigkeit

Dieter Heckings Rückkehr zum Tivoli gerät für Aachens Ex-Trainer zum coolen Triumphzug: Die Alemannia ist dagegen nach dem erschütternden 1:4 gegen Hannover mit Nachfolger Michael Frontzeck im freien Fall Richtung zweite Liga

AACHEN taz ■ So richtig zeigen wollten sie es ihrem Extrainer Dieter Hecking – und heraus kam ein demütigendes Desaster. Aus dem Stadion brüllen wollten sie ihren Aufstiegscoach, den sie Fahnenflüchling nennen, Judas und Verräter, nachdem er im September wegen akuter Verwerfungen im Familienverbund panikartig in die Heimatstadt Hannover gewechselt war. Einen „brennenden Tivoli“ hatte der Boulevard geifernd prophezeit, aber nach dem 1:4 sangen einige Aachener lauthals: „Dieter Hecking, du bist der beste Mann.“ Alemannia ist im freien Fall.

Manager Jörg Schmadtke gelang selbst sein feines Spottlächeln nur noch gequält. Er sprach von „inakzeptabler Defensivleistung“ einer leblosen Mannschaft, deren Auftritt auch Trainer Michael Frontzeck „sehr bedenklich, absolut unerklärlich“ nannte.

Der Tivoli ist zu einer Heimstatt der Sorglosigkeit geworden. Regelmäßig tölpelt mal der eine dann der andere Alemanne, - und schon ist der Ball im Tor, gern früh und auf verhöhnend kuriose Weise, und bleischwere Verunsicherung in allen Ritzen der Stadionruine spürbar. Diesmal war es Moses Sichone, der schon beim mittwöchlichen 1:2 in Schalke an beiden Gegentoren tatbeteiligt war und nahtlos mit mehreren Tiefschlafattacken weitermachte. „Wenn einige nicht bei der Sache sind, macht es keinen Sinn“, sagte Keeper Stephan Straub.

Von wegen Hexenkessel, leidenschaftliches Publikum, Euphorie: Der Tivoli ist mit der sechsten Heimniederlage im 11. Bundesligaspiel (26 Gegentore) zum Selbstbedienungsladen für Gegner geworden. Beim letzten Heimsieg war es noch September. Nach den lauten „Frontzeck raus“-Rufen am Samstag kursierten später sarkatische Scherze: Dieter Hecking soll den Kollegen im Spielertunnel wutentbrannt niedergeschlagen haben: „Was hast du nur aus meiner Mannschaft gemacht, du Schuft?“

Heckings Rückkehr war sehr defensiv angelegt gewesen. Das Stadion betrat er erst mit dem Einlaufen der Teams, die Pfiffe gingen dabei fast unter. Begrüßungen mit Ehemaligen beschränkten sich aufs Notwendigste, „weder kühl noch atemberaubend, schlicht professionell“, sagte er nach seinen sehr plaisierlichen Nachmittag mit seiner wenig großartigen Elf, abgesehen vom großen Talent Jan Rosenthal. Hecking verkniff sich jedes Triumphgrinsen, schwindelte aber, das sei „kein besonderer Sieg“ gewesen. Niemand wollte anzweifeln, dass weiter „zwei Herzen in meiner Brust schlagen“.

Die Ernüchterung in Aachen ist immens: Man weiß, dass auch die Verantwortlichen in den Klubgremien genauso unkoordiniert sind wie das Team auf dem Platz. Dass der Stadionneubau hakt, Eifersüchteleien den Alltag bestimmen, Mobbingverdacht und eklatante Kommunikationsdefizite, wie sie auch die leblose Mannschaft auf dem Platz offenbarte. Jetzt erinnern sich alle an die seltsame Erklärung von Präsident Horst Heinrichs zum Aufstieg: „Unser eigentliches Zuhause bleibt die 2. Liga.“ Aktuell befürchtet Aufsichtsratschef Helmut Breuer für den Abstiegsfall, dass „wir gar weiter durchgereicht werden. In der 2. Liga kann so etwas schnell geschehen.“

Der Rückhalt des introvertierten Michael Frontzeck (“Ich kann die Rufer ein Stück verstehen“) schwindet derweil weiter. Unbelehrbar von der rauhen Wirklichkeit lässt er Woche für Woche harakiriös offensiv spielen, zudem mit untauglichem Personal, sowohl hinten (Pinto) wie auch vorne (Ebbers, Ibisevic). Parallel ist die Spielkultur aus Hecking-Zeiten schleichend abhanden gekommen. Die akute Verzweiflung ist so groß, dass in Internetforen jetzt schon nach Peter Neururer als Retter gerufen wird.

Dabei gibt es sie noch, die guten Meldungen von Erstligist Alemannia. Reiner Plaßhenrich, wichtiger im Mannschaftsgefüge als der am Samstag virusschlappe Jan Schlaudraff, feierte nach zwei Monaten ein verletzungsfreies Comeback. Aachen steht weiterhin, wenn auch nur dank eines einzigen Tores, auf einem Nichtabstiegsplatz. Und: Der nächste Heimgegner heißt FC Bayern, gegen die es zuletzt, wenn auch im Pokal, immer zum Sieg gereicht hat. Ob die Bundesliga eigene Gesetze hat, wird sich zeigen. Immerhin sagt die Statistik, dass das kleine, arme Alemannia Aachen jetzt schon genauso viele Tore erzielt hat wie die Münchner Millionarios.

BERND MÜLLENDER