: Merkel: „Es geht hier um Gerechtigkeit“
Warum die Kanzlerin 2004 für eine Verlängerung des Arbeitslosengelds I war und heute dazu schweigt
BERLIN taz ■ Die öffentliche Debatte über eine Verlängerung des Arbeitslosengelds I für ältere Menschen läuft jetzt seit mehr als drei Wochen. Umfragen zufolge unterstützen 82 Prozent der Deutschen die Idee von Jürgen Rüttgers, dem CDU-Ministerpräsidenten von Nordrhein-Westfalen. Umso überraschender ist innerhalb der großen Koalition die Gefechtslage bei diesem grundsozialdemokratischen Thema. Die SPD-Spitze, allen voran Vizekanzler Franz Müntefering und Parteichef Kurt Beck, kämpft unter dem Beifall der Arbeitgeber erbittert dagegen, die CDU ist ein bisschen dafür und ganz entschieden dagegen, die CSU ist eigentlich dafür, sagt es aber nicht laut. Und die Kanzlerin? Sagt öffentlich wieder einmal nichts. Sie macht das, was sie am besten kann: laviert, taktiert, wartet ab.
Ist die Kanzlerin prinzipiell dafür, dass ältere Menschen, wenn sie länger in die Arbeitslosenversicherung eingezahlt haben, im Falle ihrer Arbeitslosigkeit mehr Geld von der Versicherung ausbezahlt bekommen als jüngere Menschen? Ist sie für den Rüttgers-Vorschlag, der vorsieht, das Vorhaben „aufkommensneutral“ zu finanzieren, also das Geld, das diese Maßnahme kostet, durch Kürzung des Arbeitslosengelds für die Jüngeren hereinzuholen? Oder ist sie prinzipiell dafür, konkret aber gegen das Rüttgers-Modell? Oder ist sie gegen alles? Ein Blick ins Archiv hilft: Angela Merkel ist im Prinzip dafür, dass ältere Menschen länger Arbeitslosengeld I ausgezahlt bekommen.
Nicht nur, dass ein CDU-Parteitag 2004 genau das beschlossen hat. Merkel persönlich sieht das auch so. Genauer gesagt, sie sah das vor zwei Jahren so, als sie noch Oppositionsführerin war. Nachzulesen ist das in einem langen Interview, das der Journalist Hugo Müller-Vogg mit Merkel geführt und als Buch veröffentlicht hat. „Mein Weg“ heißt es, und auf den Seiten 196 und 197 äußert sich Merkel ausführlich zu der heute so umstrittenen Frage. „Wer 45 oder 40 Jahre gearbeitet hat, soll entsprechend seiner Lebensleistung auch eine längere Zeit Geld aus der Arbeitslosenversicherung bekommen“, sagt sie dort. „Die ordnungspolitischen Einwände dagegen kann ich nicht nachvollziehen.“
Merkel setzt sich in dem Interview mit zwei immer wieder genannten Einwänden gegen Rüttgers auseinander. Nummer eins: Die Arbeitslosenversicherung sei eine Versicherung wie jede andere, bei einem Hausbrand bekomme der Versicherte ja auch den Neuwert erstattet, ganz gleich, ob er drei oder dreißig Jahre lang die Prämien bezahlt habe. „Die Arbeitslosenversicherung ist aber eine Versicherung, bei der auch umverteilt wird. Ein Arbeitsloser mit Kindern bekommt ja auch mehr Unterstützung als einer ohne Kinder“, antwortet Merkel. „Nur wenn es um das Alter und die Chancen auf eine Rückkehr in die Arbeitswelt geht, soll plötzlich nicht mehr umverteilt werden. Dann machen wir es, bitte schön, per Prämien ohne sozialen Ausgleich. Dann versichert sich jeder am Kapitalmarkt gegen das Risiko der Arbeitslosigkeit.“
Einwand Nummer zwei: Die Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes sei lediglich eine „technische Frage“, wie der hessische CDU-Ministerpräsident Roland Koch in der aktuellen Ausgabe des Focus sagt. Mit Sicherheit also „keine Frage der sozialen Gerechtigkeit“, wie Unionsfraktionschef Volker Kauder betont. Wozu also die ganze Aufregung? Antwort Merkel: „Wenn ich auf einer Versammlung dafür eintrete, dass jemand, der 45 Jahre in diese Versicherung eingezahlt und nie eine Leistung bekommen hat, beim Übergang in die Rente ein Jahr länger Arbeitslosengeld erhält als ein 27-Jähriger, dann bekomme ich tosenden Beifall. Weil die Menschen spüren, dass es hier um Gerechtigkeit geht.“
Weil Merkel heute Kanzlerin ist, es für sie also nicht nur um Gerechtigkeit, sondern vor allem um die Macht, die Zukunft der Union und die Stabilität der Koalition geht, führt sie ein solches Versteckspiel auf. Sie will bei den Wählern den Eindruck erwecken, das Thema soziale Gerechtigkeit sei bei der Union besser aufgehoben als bei der SPD. Deswegen lässt sie Rüttgers gewähren. Mal ganz davon abgesehen, dass die NRW-CDU ein Drittel der Delegierten des Parteitags Ende November in Dresden stellt. Deren Unterstützung braucht Merkel, egal wofür, unumstritten ist ihre Position als CDU-Chefin ja nicht.
Gleichzeitig darf sie die SPD nicht zu sehr reizen. Also lässt die Kanzlerin ihre Gefolgsleute Kauder und CDU-Generalsekretär Ronald Pofalla daran arbeiten, aus dem Rüttgers-Vorschlag einen folgenlosen Beschluss für den Parteitag zu formen. Demnach sollen die Delegierten dem Vorschlag „grundsätzlich“ zustimmen und ihn zur „weiteren Ausarbeitung der Einzelheiten“ an die Bundestagsfraktion überweisen – wo er dann still und leise begraben wird. JENS KÖNIG