MENSCHEN OHNE HAARE
: Das sagt man nicht

Mir gegenüber sitzt eine kleine Familie: Vater, Mutter, Kind

Ich steige in die Bahn und breite mich aus, Sakko, Buch, Tasche, als ich merke, dass mich wer dabei beobachtet. Ich hebe den Kopf, schaue mich um. Mir gegenüber sitzt eine kleine Familie: Vater, Mutter und Kind, und viel mehr Leute gibt’s auch nicht in der Bahn; sie ist ziemlich leer. Vater und Mutter schauen aus dem Fenster, das Kind dagegen mich an. Als unsere Blicke sich treffen, schaut die Kleine schnell weg, zupft Papa am Ärmel und flüstert ihm was zu, ganz leise. Nur können Kinder nicht leise flüstern, jedenfalls dieses hier nicht. Ich höre also genau, was es sagt, das Mädchen zum Papa: „Der Mann da hat ohne Haare!“

Das stimmt: ich hab ohne Haare, und stimmt nicht: ich bin kein Mann. Nur seh ich so aus heute, wie öfters mal, einfach so – Anzughose und Sakko und Hemd und eben ohne Haare. Frauen haben nicht oft Anzug und Hemd und ohne Haare, außer in Berlin, und das wird Papa wohl auch gleich sagen: „Das ist kein Mann!“

Aber Papa sagt das nicht, Papa sagt einfach nur „Shsh!“ und lässt mich im Dunkeln. Hat er mich nun als Mann gesehen oder nicht? Das will ich schon wissen. Doch Papa sagt nur noch: „Das sagt man nicht“, und schaut wieder weg.

Seine Tochter schaut nicht weg und bald flüstert sie wieder, diesmal zumindest mit Hand vor dem Mund. „Papa“, sagt sie und es klingt ganz dringend, „Der hat ohne Haare!“ Und dann fügt sie hinzu: „Wie du!“ Ich muss grinsen; Papa hat ohne Haare, da hat sie recht. Papa grinst auch und greift ihr ins Gesicht. „Und du hast gleich ohne Ohren!“, sagt er und zupft. Die Tochter kichert, Papa zupft doller, und Mama und ich schauen den beiden zu. Und drei Stationen später steigen wir aus, zufällig alle zusammen. Dann geht der eine ohne Haare und Tochter und Frau nach links und der oder die andere ohne Haare nach rechts, und mehr ist nicht passiert, an diesem Abend in Berlin. JOEY JUSCHKA