Einer, der einsteckt und explodiert


VON LUTZ DEBUS

Quadratisch, praktisch, grau. Die Gesamtschule Leverkusen-Schlebusch ist eine dieser typischen Waschbetonbildungsanstalten der frühen 1980er Jahre. Zur großen Pause rennen Kinder auf dem Hof umher, die älteren stehen in Pulks zusammen und quatschen. Einer von ihnen ist Turfan Boyaci. 17 Jahre ist er alt, er wirkt schmächtig, etwas schüchtern. Seine Eltern stammen aus der Türkei. Er geht in die 10. Klasse. „Ich bin nicht leistungsstark hier in der Schule“, gibt er mit leiser Stimme zu und drückt seinen Kopf zwischen die Schultern.

Die Wortwahl verrät, dass er diesen Satz schon oft von seinen Lehrern hören musste. „Nicht leistungsstark“. Dabei ist Turfan Boyaci NRW-Meister, in seiner Alters- und Gewichtsklasse der beste Boxer des Landes. Aber in Deutsch, Englisch und Mathe sind die Zensuren so, dass sich die Lehrer um seinen qualifizierten Hauptschulabschluss sorgen.

Mit dem Boxen will Turfan aber nicht aufhören. Auch wenn er in den vier Stunden am Tag, in denen er trainiert, auch für die Schule lernen könnte. Denn seit er boxt, besonders, seit er damit erfolgreich ist, geht es ihm gut. „Ich weiß, ich hab‘ was drauf.“

Vor eineinhalb Jahren erst trat er in die Boxstaffel des TSV Bayer Leverkusen ein. Andere, die bereits mit acht Jahren anfingen, haben eine bessere Technik. „Bei denen sind die Bewegungsabläufe völlig automatisiert“, erklärt Turfan Boyaci. Ihm komme dafür sein Temperament zugute. Das sagt er mit einem Lächeln und blickt einen dabei mit seinen großen dunklen Augen an. Ist er brutal? „Nein“, sagt er mit einem Schmunzeln. „Viele Türken sind Schläger. Ich bin eher ruhig.“ Früher jedoch, wenn er über längere Zeit provoziert wurde, schlug auch er zu. Mit den Lehrern oder gar der Polizei hatte er deswegen zwar nie Probleme. Aber gut sei es nicht, sich zu prügeln, erklärt er knapp. Zumindest außerhalb des Ringes.

Auf dem sechs Mal sechs Meter großen Quadrat funktioniert Turfan immer noch wie früher auf der Straße. Erst steckt er lange Zeit viel ein, dann explodiert er. So und mit ein wenig Glück hat er es im letzten Jahr bei der Meisterschaft zu seinem Titel gebracht. „Da ging für mich eine Tür auf. Das war krass.“ Endlich vor viel Publikum zu boxen. Ein ZDF-Kamerateam war da. Auf einmal habe er gemerkt, wie wichtig die Technik ist. „Rausgehen, reingehen, seitlich weg, nicht nur drauf kloppen.“ Mit den knappen Kommandos klingt er fast schon wie sein eigener Trainer.

Als Kind hat Turfan viel Zeit auf dem Bolzplatz verbracht. Mit wenig Begeisterung und ebenso wenig Erfolg. „Mach Fußball“, hatte ihm sein Vater geraten. Aber der Junge wollte nicht auf ihn hören. Er probierte Kickboxen. Das war ihm schnell zu einseitig. Immer nur die Beine benutzen. Über einen Bekannten kam er dann zum Amateurboxen. Die Mutter war entsetzt, ist es bis heute. Wenn sie nach dem Training sein ramponiertes Gesicht wäscht, kühlt und eincremt, jammert sie noch immer. Der Vater, so vermutet Turfan, sei stolz auf ihn, zeige es aber nicht.

„Rap macht Power!“

Der fünf Jahre ältere Bruder ermutigt ihn immer wieder, weiter zu machen. Denn wenn es mal nicht so gut klappt, wenn ein Kampf verloren geht, fühlt sich der Landesmeister leer, erschöpft, verzweifelt, will die Handschuhe schon Mal an den Nagel hängen. Dann hilft ihm neben den tröstenden Worten seines Bruders auch die Musik. Zum Einheizen vor dem Training hört er sich den US-amerikanischen Rapper DMX an. „Die schnellen harten Beats, die gangstamäßige Stimme, das macht Power!“ Vor den Kämpfen allerdings muss er ruhiger werden, runterkommen. Dann entspannt er sich mit der Musik von Xavier Naidoo.

Turfan Boyaci ist in der Familie das Nesthäkchen. Seine vier älteren Schwestern sind schon verheiratet, wohnen in der Nachbarschaft. Sein Bruder lebt noch bei den Eltern. Vater und Mutter sind vor knapp 40 Jahren aus der Türkei nach Leverkusen gekommen, 18-jährig. Der Vater arbeitete als Chemikanthelfer in Wechselschicht, die Mutter als Putzfrau. Beide sind nun Frührentner. Die Arbeit hat sie kaputt gemacht. Eine Freundin soll Turfan nicht haben, meinen die Eltern. Auch darum sei es gut zu boxen, schmunzelt der junge Mann. „Für ein Mädchen hätte ich bei dem ganzen Training sowieso keine Zeit.“ Auch Zigaretten, Alkohol und Drogen sind für den Athleten tabu. Schon allein deshalb begrüßt der Vater die Leidenschaft des Sohnes.

Seit er boxt, sei Turfan sanfter geworden, erzählt sein Freund Willi Drews. Der Klassenkamerad kommt aus Kasachstan, trägt eine Baseballkappe und rollt das „r“. Früher, als die beiden öfters in die Billard-Bar „Uncle Sam“ gingen, gab es schon mal brenzlige Situationen. Willi Drews weiß um das schlummernde Temperament seines Freundes. „Wenn da jemand rumgepöbelt hat, wurde es schon mal kompliziert.“ Inzwischen kann fast alles Mögliche passieren – Turfan bleibt dabei gelassen.

Natürlich, so erklärt der Landesmeister, müsse er sich nichts mehr beweisen. Er weiß, dass er gut ist. Seine Kräfte könne er besser im Ring als auf der Straße messen. Aber es gibt auch einen ganz praktischen Grund, warum Turfan ruhig bleibt. „Wenn du zwei Stunden beim Training was auf die Fresse gekriegt hast, reicht das für den Tag. Dann brauchst Du nichts mehr.“

Inzwischen lassen ihn die anderen Jungs aber auch in Ruhe, weil sie wissen, was der Amateurboxer drauf hat. Freund Willi würde auch gern boxen. Aber der Arzt hat es dem bulligen Aussiedlersohn verboten. Wegen seiner kaputten Bandscheiben. „Ich bewundere den Turfan“, sagt Willi unvermittelt, bevor er sich wieder den anderen aus der Clique zuwendet. Auch die 16-jährigen Mädchen, die ein paar Schritte weiter kichernd im Kreise stehen, wissen nur Positives über Turfan zu berichten: „ein netter Kerl“, „völlig okay“, „korrekt“ und schließlich: „Total süß“.

Selbstverständlich haben Turfan und Willi Ende letzten Jahres den Boxkampf im Fernsehen verfolgt: Brian Minto gegen Axel Schulz. Und am 31. März werden sie sich mit Sicherheit den Kampf zwischen Henry Maske und Virgil Hill anschauen. Viele in der Leverkusener Boxstaffel machen sich über die Comebackversuche der alten Herren lustig. „Rentner gehören nicht in den Ring“, lautet meist das Urteil der jungen Athleten beim TSV. Turfan Boyaci sieht das anders. Schulz wie auch Maske verdienen Respekt, urteilt er. So, wie er niemals seinen eigenen Vater kritisieren würde, ist es ihm unmöglich, Negatives über die beiden Boxlegenden zu sagen.

Gesünder als Komasaufen

Würde er selbst ins Profilager wechseln, wenn man ihm dies anböte? „Klar“, antwortet Turfan Boyaci spontan. Dann aber nimmt er sich zurück. „Ich sehe das realistisch. Ich bin nicht so gut.“ Vor den viel härteren Bedingungen habe er keine Angst. Während er als Amateur in der Juniorklasse nur vier Mal zwei Minuten boxe, geht bei den Profis ein Kampf über bis zu 12 manchmal quälend lange Runden à drei Minuten. Viele, darunter zuletzt Axel Schulz, schaffen es nicht einmal, die Hälfte der Zeit zu überstehen.

Der Amateur Turfan Boyaci ist bisher erst ein Mal auf die Bretter gegangen. „Man spürt den Körper nicht mehr, ist wie abgeschaltet“, erzählt er mit seinem freundlich- schüchtern wirkenden Lächeln. Angst habe er nicht gehabt. „Man kann ja nicht sterben.“ Sicherlich sei das Boxen nicht unbedingt nur positiv für den Körper. Dafür lebe er aber viel gesünder als die meisten seiner Klassenkameraden. Das gleiche den Verlust von ein paar Hirnzellen locker aus, sagt der junge Boxer. Viele Jugendliche seines Alters veranstalteten an Wochenenden Komasaufen, er nicht. Er denke jetzt erst einmal an die nächste Deutsche Meisterschaft Ende Februar und an die Schule. Der TSV Bayer wird ihm bei der Suche einer Lehrstelle im örtlichen Chemiewerk sicher helfen, ist er überzeugt. Aber dafür braucht er nun mal den Hauptschulabschluss.