: Unterm Strich
Ulrich Wildgruber war niemand, der zwischen Arbeit und Freizeit akkurat zu unterscheiden wusste. Und so konnte man den großen Theaterschauspieler, als er noch in Hamburg wohnte, häufig an der Alster entlanglaufen sehen – und jedesmal memorierte er gerade einen Theatertext, meistens natürlich einen großen Monolog aus einem der Shakespeare-Stücke, mit denen er in Inszenierungen der Regisseure Peter Zadek oder Wilfried Minks berühmt wurde. Das waren dann Begegnungen, die fast schon so beeindruckend waren wie seine wirklichen Theaterauftritte auf den berühmtesten deutschsprachigen Bühnen, an den Schauspielhäusern in Hamburg und Bochum, dem Wiener Burgtheater oder – wie kürzlich noch bei Peter Zadeks „Hamlet“-Inszenierung mit Angela Winkler in der Titelrolle und Wildgruber als Polonius – an der Schaubühne in Berlin. Wildgruber war das, was man gerne ein Naturtalent nennt. Jemand, der seine Rollen nicht nur zu spielen, sondern förmlich zu leben weiß.
Am Montag oder Dienstag dieser Woche muss Ulrich Wildgruber den Strand von Sylt entlanggelaufen sein, und niemand wird jemals mehr in Erfahrung bringen, ob er zu dieser Gelegenheit noch einen Theatertext memoriert hat und wenn ja, welcher das gewesen sein mag. Noch ist nicht alles rund um den Tod dieses – hier trifft dies abgenutzte Wort tatsächlich zu – einzigartigen Schauspielers geklärt. Aber es spricht einiges dafür, dass er seinem Leben selbst ein Ende setzte, indem er, ein Nichtschwimmer, in das kalte Nordseewasser ging.
Seine Lebensgefährtin, die Schauspielerin Martina Gedeck, hatte ihn am Montag bei der Polizei in Berlin, wo Wildgruber zuletzt wohnte, als vermisst gemeldet. Am Dienstag wurde Wildgruber von einem Spaziergänger tot am Strand und völlig mit Sand bedeckt gefunden. Ein Fremdverschulden schließt die zuständige Staatsanwaltschaft in Flensburg inzwischen aus. Es wird spekuliert, dass Wildgruber geglaubt haben könnte, aufgrund einer Herzkrankheit nicht mehr auf der Bühe stehen zu können, und er aus diesem Grund den Freitod suchte.
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