Lustgewinn und Jahrgangszauber

Ein Jäger des Ewig-Weiblichen: Nicolaus Sombarts surrealer Rumänien-Reisebericht aus dem Jahr 1972 ist ein alteuropäischer Schicksalsroman und verhilft der Fantasie an die Macht. Warum zieht der 83-jährige Dandy immer noch die Jugend an?

Sombarts Jahrgang, das waren die Sorgenkinder der Weimarer Republik

VON ALEXANDER CAMMANN

Nicolaus Sombart, Jahrgang 1923, ordnet seine Verhältnisse. Wie einst sein Vater, der Soziologe Werner Sombart, auf dem Höhepunkt der Inflation, hat er Teile seiner Bibliothek an die Antiquariate verkauft. Die Berliner Staatsbibliothek erwarb seine Briefe und Manuskripte. Und sein legendärer Salon, der Sombart vor dem Mauerfall zum Mittelpunkt der Westberliner Gesellschaft werden ließ, ist allmählich entschlafen. Das Alter fordert seinen Tribut. Zuletzt stand es um das Image Sombarts ohnehin nicht zum Besten. Allenfalls noch das Epigonentum diverser Popliteraten machte sich das Klischee vom libertären Dandy Sombart zu eigen. Viele wendeten sich dagegen angewidert ab: Waren die exzessiven Schilderungen erotischer Eskapaden, die Sombarts Bücher zuletzt durchzogen, nicht einfach peinlich? Blieb vom einst verführerischen Esprit nur noch schwadronierender Narzissmus und die Sexsucht eines Lustgreises? Das alles mag stimmen – und ist doch nicht wahr.

In Nicolaus Sombarts „Rumänischer Reise“, dem Abschluss seines mehrbändigen autobiografischen Rechenschaftsberichts, findet man noch einmal alle Motive eines bemerkenswerten Lebens. Begonnen hatte er mit „Jugend in Berlin“ (1986), einer atmosphärisch dichten Erinnerung an die dreißiger Jahre. In seinen „Pariser Lehrjahren“ (1994) zu Beginn der Fünfzigerjahre wucherte der Sexus schon kräftig. Sein „Rendezvous mit dem Weltgeist“ (2000) über die späten vierziger Jahre in Heidelberg wirkte vor allem durch die Reminiszenzen an die Zeit mit seinem Studienfreund und späteren Begründer der Begriffsgeschichte, Reinhart Koselleck. Das „Journal intime“ (2003) schließlich war das Tagebuch seines Jahrs am Wissenschaftskolleg 1982/83 – ein grandioses Sittengemälde Westberlins vor 1989, in dem Sombart seine Hemmungslosigkeit auf die Spitze trieb: Der Fellow fickte unzählige Male Nutten am Nachmittag, während er sich abends kulturellen Genüssen hingab.

Zum Schluss also erneut ein tagebuchartiges Buch. Es ist der Mutter gewidmet: Die junge Corinna Leon stammte aus einer angesehenen rumänischen Familie und heiratete den sehr viel älteren deutschen Soziologen Werner Sombart. Sohn Nicolaus reiste 1972 als Beamter des Europarats in Straßburg nach Rumänien zum „Dritten Internationalen Kongress für Zukunftsforschung“. Vier Stränge verschmelzen in Sombarts Erzählung über diese Wochen. Zum einen ist da seine junge Geliebte Isabelle, die er während der Reise zu sexueller Befreiung durch einen Dreier bewegen will. Daneben wirkt auf allzu vielen Seiten die Theorie erotischer Freizügigkeit des französischen Utopisten Charles Fourier (1772–1837), über den Sombart seinen Vortrag halten will.

Diese rumänische Reise ist auch ein Ausflug in die Vergangenheit, deren Orte er aufsucht: In den Dreißigerjahren hatte Nicolaus märchenhafte Sommermonate mit seinen begüterten rumänischen Angehörigen erlebt. Erschütternd fällt dagegen die Tristesse unter der Ceaușescu-Diktatur aus, in der die einstigen bürgerlichen Eliten wie Schatten weiterexistieren, so sie nicht ausgerottet wurden. Ergreifend schildert er die Begegnung mit seiner stolzen Cousine Yvonne, die mit ihrer Familie vor sich hin vegetiert und deren Wunsch nach Flucht er doch nicht befördert. Natürlich gieren seine Augen selbst in solchen bewegenden Momenten nach der schönen 15-jährigen Tochter. Auch wenn er selbst dabei wahrlich nicht gut aussieht, verschweigt Sombarts Schonungslosigkeit seine abstoßenden Züge nicht.

Sein Rumänien ist ein zutiefst europäisches Land, was man dort sicher gern vernehmen wird, jetzt zum EU-Beitritt. Zur kulturellen Tradition des Kontinents trug nicht nur Sombarts Familie ihren Teil bei, sondern auch große rumänische Intellektuelle, die zumeist fern der Heimat lebten: der Essayist und Philosoph Émile Cioran, der Dirigent Sergiu Celibidache (in den Dreißigerjahren oft Gast im Hause Sombart), der Schriftsteller und Religionshistoriker Mircea Eliade, der Dramatiker Eugène Ionesco.

Trotz aller Nostalgie ist Sombart hier wie in seinen anderen Büchern entschieden modern. Seine seitenlangen sexuellen Obsessionen, über die viele nur den Kopf schütteln können, gehören in eine französische Tradition. An jener Manie ist ohnehin mehr Dichtung als Wahrheit, so wie im „Obszönen Werk“ Georges Batailles oder in den berühmten Gesprächen der Surrealisten André Breton, Louis Aragon, Man Ray, Max Ernst, Raymond Queneaus über Sexualität. „Die Tugend ist aufrecht, das Laster ist horizontal. Und ich lag schrecklich gern“: Sombarts Sentenz hätte auch der alte Picasso mit seinen zahllosen priapistischen Radierungen ohne Zögern unterschrieben. In der Maske eines schillernden Scharlatans hinterlässt uns Sombart ein träumerisches Panorama des 20. Jahrhunderts.

Manche Jahreszahlen entfalten in den Ohren der Nachlebenden einen magischen Klang. Bekanntlich gilt das für „1929“ mit den Gestalten, die in jenem Jahr geboren wurden: Habermas, Dahrendorf, Enzensberger, Heiner Müller, Christa Wolf, Walter Kempowski und viele andere. Aber auch die Chiffre „1923“ treibt – trotz aller biografischen Zufälligkeiten – ähnlichen Jahrgangszauber. Sombarts Studienfreund Koselleck gehört dazu, ebenso dessen Kollege Ernst Nolte, der Philologe und Rhetor Walter Jens, der Politikwissenschaftler Wilhelm Hennis, der Psychoanalytiker Horst-Eberhard Richter, der Verleger Rudolf Augstein, der Publizist Peter Bender, der Kommunismus-Experte Wolfgang Leonhard oder auch der DDR-Spionagechef Markus Wolf. Ohne in Generationenbastelei zu verfallen: Es sind allesamt Sorgenkinder der Weimarer Republik, gezeugt und geboren auf dem Höhepunkt der Inflation, später den Krieg glücklich überlebend, während ihre Altersgenossen vor Stalingrad starben.

Waren Sombarts exzessiv geschilderte Sexeskapaden nicht einfach peinlich?

Das Nachkriegsgemüt jener Jahrgänge war nach den Katastrophenerfahrungen skeptisch, sachlich, realistisch gestimmt; das Pathos der Nüchternheit erzeugte endlich Wirklichkeitssinn – so lauten jedenfalls die gängigen (Selbst-)Zuschreibungen. Doch diesem identitätsstiftenden Mythos sollte man nicht vorschnell erliegen. Leidenschaften finden sich auch bei den Obengenannten zuhauf. Viele waren in Sombarts Salon zu Gast, die anderen hätten sich dort wohlgefühlt unter ihresgleichen. Insofern ist der bunte Vogel Sombart unter seinen Jahrgangsgenossen weniger Exot, als es zunächst scheint: Vicco von Bülow alias Loriot brachte das Land zum Lachen; Heinz Alfred Kissinger, in Fulda geboren und 1938 nach Amerika emigriert, wurde dort als Außenminister ein passionierter Womanizer. Und der Berliner Junge Peter Fröhlich sollte wie Sombart sein Leben den Phantasmagorien der bürgerlichen Welt widmen: ebenfalls in die Vereinigten Staaten emigriert, erlangte er als psychoanalytisch geschulter Kulturhistoriker Peter Gay Berühmtheit, sowohl mit seiner Freud-Biografie als auch mit seiner fünfbändigen Reise durch die zerklüfteten Seelenlandschaften des 19. Jahrhunderts. Nicolaus Sombarts manische Einbeziehung der Phantasie in die Erfahrung von Wirklichkeit ist durchaus ein würdiges Kapitel in einer intellektuellen Geschichte des Jahrgangs 1923.

Erklärungsbedürftig bleibt die eigentümliche Faszination, die im Jahr 2007 von diesen alten Männern für gar nicht einmal so wenige nachgeborene Thirtysomethings ausgeht. Ist es das – vorwiegend männliche – Gefühl eigenen Ungenügens, das einen haltsuchend an die Heldenbrust der großen Alten treibt, wissend, dass man ohnehin nichts Vergleichbares wird leisten können? In jener Lust an Gestalten, deren Zeit vorüber ist, schwingt neben solchen Sehnsüchten auch die Ahnung von dem mit, was über den eigenen Erfahrungsraum hinausreicht. Die Alten kommen von weiter her. In ihrem Leben und Werk steckt somit immer mehr als nur bundesrepublikanische Normalität. Ihre Erlebnisse und Abgründe, ihre Ideen und Obsessionen liefern der Bundesrepublik eine existenzielle Grundierung, die für Nachgeborene reizvollere Identitätsangebote als die Gegenwart bietet.

Aus dem Leben des jungen Sombart hat der Altgermanist Peter Wapnewski, Jahrgang 1922, eine amüsante Episode überliefert: Gemeinsam erlebten sie 1941 mit 200 weiteren jungen Abiturienten stupiden Drill im Lager des Reichsarbeitsdienstes. Wapnewskis Kamerad erhielt dabei vom Hauptfeldmeister einen Spezialauftrag, der „seinem Bedürfnis nach kreativem Tun ebenso entgegenkam wie dem nach Schonung seiner Person“: Sombart sollte ein Modell des Lagers aus Plastilin formen. „Das Kunstwerk erlebte seine Vollendung nicht, der Künstler wusste sie klüglich hinauszuzögern …“

Ein Modell des Lebens aus Fantasie: Dieses bei sich selbst in Auftrag gegebene Kunstwerk hat der heute 83-jährige Nicolaus Sombart in seinen Erinnerungsbüchern trotz aller Verzögerungen glücklicherweise vollenden können. Erfüllung allerdings konnte dieses wunderbar unseriöse Unterfangen niemals bieten. Denn wie jedes große Begehren tendiert auch Sombarts Wirklichkeitserweiterung durch sinnliche Fantasie tendenziell gegen unendlich. Ewig unerfüllt: Nicolaus Sombarts Traumwelt ragt, phallisch wie die berühmte „Unendliche Säule“ des Bildhauers Constantin Brancusi im rumänischen Târgu Jiu, aus einer vergangenen Epoche in den Himmel.

Nicolaus Sombart: „Rumänische Reise. Ins Land meiner Mutter“. Transit, Berlin 2006, 256 Seiten, 18,80 €