: Vom Zaudern und Zählen
Die Tür zu den Möglichkeitsräumen des Denkens: Weit öffnen will die Joseph Vogl, Kulturwissenschaftler der Humboldt-Universität. Ein Porträt
VON INES KAPPERT
Über den eigenen Lebenslauf will Joseph Vogl nicht sprechen. „Die eigene Biografie ist ja im hohen Maße verwechselbar.“ Dass er in München Germanistik studiert und mal mit Roger Willemsen eine WG gebildet hat, über Kafka promovierte und schließlich über die Geschichte des ökonomischen Menschen habilitiert hat, das alles lässt sich leicht ergoogeln und nachlesen. Interessanter findet er die Frage, wie man sich als Intellektueller und als Professor im Feld der Geisteswissenschaften positioniert.
Joseph Vogl hat 2006 die Professur für Literatur- und Kulturwissenschaft/Medien an der Humboldt-Universität angetreten. Und sich damit gegen ein Verbleiben an der Uni Weimar und auch gegen einen Wechsel an die renommierte ETH Zürich entschieden.
Trotz dieser so stringent anmutenden Karriere hegt der an der Diskursanalyse geschulte Kulturwissenschaftler große Sympathien für eine Geste leidenschaftlichen Zauderns. Denn das Zaudern, so erklärte er zuletzt bei seiner Antrittsvorlesung in der Humboldt-Universität, bildet die Schattenseite einer das Abendland entscheidend prägenden Kultur der Tat. Es ist der Gegenentwurf zum Leistungsanspruch, der Menschen an ihren Taten misst, und nicht daran, wann sie innehalten, wann sie zögern und handliche Lösungen verweigern. Genau solche Zonen aber, in denen der Möglichkeitsraum noch nicht zugunsten einer Option geschlossen wurde, gelte es in den Blick zu nehmen. Nicht zuletzt die Interviews mit Alexander Kluge oder auch Vogls Auftritte auf verschiedensten Podien zeigen, dass dieses Denkverfahren sein Publikum auch außerhalb der Universität findet.
Bei aller Anstrengung, zur intellektuellen Offenheit zu verführen, ordnet Vogl sich und sein Denken auch gerne. Meistens reichen ihm dafür drei Punkte aus. „Lassen Sie mich eine kleine Faustregel erstellen – drei Punkte“, sagt er dann. So auch, als er die Bedeutung der Theorie für sein eigenes Arbeiten umreißt: „Erstens: Jedes Arbeiten mit Theorie muss die Möglichkeiten dessen, was gedacht werden kann, erhöhen. Zweitens: Wenn es die Aufgabe von Theorie ist, die Wirklichkeitserfassung zu erweitern, wenn Theorie als Welterschließungsprogramm arbeitet, dann kann sie als eine Art Notbremse gegen Dogmatik wirken. Drittens: Die zentrale Frage ist: Was heißt eigentlich Moderne und wie ist eine Ontologie der Gegenwart zu betreiben? In anderen Worten: Was macht die Aktualität des eigenen Sprechens und Denkens genau aus?“
Es hat etwas Anrührendes, wie dieser sprachmächtige Mann in jedem Satz um Präzision ringt, keinen einzigen verloren gibt, sondern feilt und feilt und dabei trotzdem nicht pedantisch oder rigide wirkt. Insofern erstaunt es auch nicht, dass ihm bei seinem Werben dafür, die Universität als Möglichkeitsraum zu begreifen und die Kulturwissenschaften als Feld, um sich mit Interessen anzustecken, die „Wissenschaftspolizisten“ ein Ärgernis sind. Gemeint sind damit VertreterInnen von Wissenschaft oder Politik, welche die Disziplin disziplinieren wollen. Eine in Zeiten der radikalen Umstrukturierung der geisteswissenschaftlichen Disziplinen – Stichwort Bachelor, Stichwort Elitenbildung – nicht eben seltene Spezies.
Demgegenüber findet Vogl es jedoch durchaus richtig, wenn die eigene Disziplin in Erklärungsnot gerät und erläutern muss, worin die gesellschaftliche Relevanz ihrer Gegenstände besteht. Zumal die Literaturwissenschaften sehr wohl ein Wissen anbieten können, das zu mehr taugt, als „nur“ Romane zu analysieren. So erlauben die von ihnen entwickelten Analyseverfahren etwa, den Text einer Kultur, also Wertvorstellungen, Wissensformen und kollektive Imaginationen, aufzuschlüsseln. Und da nun mal keine Gesellschaft ohne die Bezugnahme auf Mythen, Erzählungen, Fiktionen, Bilder von sich sowie von dem oder den Anderen auskommt, ist dies ein nicht zu unterschätzendes Kapital.
Bei der Frage dann nach seinem Lieblingsroman stutzt Vogl. Und hilft sich nach kurzem Zögern mit einer Definition weiter: Wenn Lieblingsroman ein Buch meint, zu dem man immer wieder zurückkehrt und das einen jedes Mal wieder ein wenig gescheiter entlässt, dann müsste er wenig originell den „Mann ohne Eigenschaften“ von Musil nennen. Auch wenn es ihm keine rauschhaften Nächte mehr bereitet. – Und seine Vorbilder? Ja, klar, die hat er auch. Wobei er sich nur zögernd und wohl vor allem aus Höflichkeit auf diese Frage einlässt. Sie ließe sich aber wirklich nur in aller Selbstironie beantworten, schränkt er ein. Wieder beginnt das Zählen. „Erstens: Kafka. Nicht als Autor, sondern als Person der Selbstrücknahme, aufgrund seiner existenziellen Schüchternheit.“ An zweiter Stelle stehe, und auch das sei anmaßend, Deleuze, und zwar als Pädagoge. Erst in dessen Seminaren habe er begriffen, wie Lehre auch aussehen kann: nämlich in jeder Stunde etwas Neues zu erzählen und dennoch die ZuhörerInnen nicht zu verlieren. Drittens, wieder zögert Vogl, ja, Foucault – aufgrund der von ihm ausgehenden intensiven Kälte, die die Moralisten immer so aufregt.
Bücher von Joseph Vogl: „Kalkül und Leidenschaft. Poetik des ökonomischen Menschen“, Diaphanes, 2004 „Poetologien des Wissens um 1800“, W. Fink Verlag, 1999 (Hg.) „Ort der Gewalt. Kafkas literarische Ethik“, W. Fink Verlag, 1990
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