Lumpensammler leisten Lebenshilfe


„Wir machten uns auf die Suche nach Obdachlosen, fanden aber einfach keine“

AUS KÖLN HENK RAIJER

Willi Does steht an der Registrierkasse, raucht und schweigt. Kölns oberster Lumpensammler tut sich schwer an diesem ersten Werktag nach der Beerdigung von Abbé Pierre. Noch vor wenigen Tagen war der Leiter der Kölner Emmaus-Gemeinschaft mit seiner Frau Pascale beim Trauergottesdienst in der Pariser Kathedrale Notre Dame. Dort wurde des Armenpriesters gedacht, der sein Leben in den Dienst von Obdachlosen und Notleidenden gestellt hatte und im Alter von 94 Jahren gestorben war. Beeindruckt habe ihn nicht so sehr die Pariser Politprominenz, die dem Begründer der Emmaus-Bewegung die Reverenz erwies, betont Willi Does. Der 51-Jährige zündet sich eine weitere Selbstgedrehte an und lässt seinen Blick durch die mit Kleiderständern, Büchertischen und Elektrogeräten voll gestellte Halle schweifen. „Da defilierten Vertreter aller Weltreligionen an dieser schlichten Holzkiste vorbei und legten ihre Friedenssymbole auf den Sarg, direkt neben Barett und Stock von Abbé Pierre“, erzählt Does. „Das ist mir richtig nahe gegangen, obwohl ich mit Kirche sonst nicht viel am Hut habe.“

„Emmaus-Brüder“ werden sie genannt, die gut 25 Mitglieder der Kölner Selbsthilfegruppe, die Kleider, Möbel und Hausrat abholen und vom Sperrmüll der Gesellschaft leben. Von den Überschüssen, die beim Second-Hand-Verkauf auf dem 1.400 Quadratmeter großen Gewerbegelände im Kölner Norden erzielt werden, unterstützen Pascale und Willi Does Emmaus-Gruppen in Osteuropa und Lateinamerika. Selbst verordnetes Ziel der Gemeinschaft ist es, von der eigenen Arbeit zu leben und diejenigen, die noch weniger haben, an den erwirtschafteten Profit zu beteiligen, lokal wie international. „Wir sind aber nicht die Caritas“, sagt Willi Does. „Abbé Pierre war zwar Priester, aber Emmaus ist eine überkonfessionelle Einrichtung. Unser Herz schlägt eher links, wir wollen die Armen zu Akteuren ihres eigenen Geschicks werden lassen.“

Emmaus ist der Name eines Ortes in Palästina, wo einige Verzweifelte die Hoffnung wiedergefunden haben. So steht es im Manifest der Emmaus-Bewegung, die 1949 vom französischen Priester Abbé Pierre ins Leben gerufen wurde und heute in 40 Ländern gut 500 Vereinigungen unterhält. Der „Vater der Armen“ begann in den Fünfzigern mit dem Bau von Notunterkünften für obdachlose Familien.

In Köln begann alles 1959 mit einem Aufruf. „Wer hilft Abbé Pierre? Die Lumpensammler von Emmaus machen eine Brockensammlung“, heißt es auf einem vergilbten Plakat aus jenem Jahr, das, eingerahmt hinter Glas, eine Wand in der Geschäftsstelle des Abhollagers ziert. Die erste Gemeinschaft überlebte nur wenige Jahre, Missmanagement und eine hohe Fluktuation bereiteten dem Verein ein schnelles Ende, erzählt Willi Does. „1970 war Emmaus Köln klinisch tot.“

Zur Wiederauferstehung kam es ab Mitte der 70er Jahre im Zuge des Engagements zugunsten der Opfer des Pinochet-Regimes in Chile. Mit den Erträgen aus Flohmarktverkäufen und politischen Aktionen sollte den bedrängten Emmaus-Mitgliedern in Chile beigestanden werden. „Das war noch keine Gemeinschaft, höchstens eine Truppe von Linkskatholiken auf der Suche“, sagt Willi Does. „Wir wollten über Arbeit das finanzieren, was wir Gutes tun wollten“, sagt der gelernte Buchhändler aus Dormagen mit einem Schmunzeln.

Die neue Emmaus-Gemeinschaft, der Pascale und Willi Does bis heute als verantwortliche Leiter vorstehen, betrieb seit 1985 zunächst eine Kleidersammlung und einen Flohmarkt auf einem Industriegelände in der Nähe des heutigen Emmaus-Ladens, von den Gewerbetreibenden dort und der Stadt mehr oder weniger geduldet. Aber erst als ihnen die Sozialdezernentin der Stadt ein Wohnhaus mietfrei zur Verfügung stellte und der alte Träger dem Verein einen Kredit über 150.000 Mark gewährte, konnten die gut 20 Sozialromantiker aus bürgerlichem Hause mit ihrer Arbeit als Müllverwerter auf niedrigem Niveau überleben und sich endlich ganz ihrer Zielgruppe im Sinne Abbé Pierres zuwenden: den Obdachlosen.

„So um 1989 herum wollten wir Opfer sozialer Ungerechtigkeit finden, also machten wir uns auf die Suche nach Obdachlosen“, erinnert sich Willi Does und muss lauthals lachen. „Aber wir fanden einfach keine, die meisten von uns hatten doch von Obdachlosen keine Ahnung. Außerdem hatten wir richtig Bammel!“ Letztendlich brachten die Samariternovizen ihre Suppe dann doch noch an den Mann. Bis heute verteilt Emmaus jeden Freitagabend Essen an einem Obdachlosentreffpunkt in der City.

Längst ist die Kölner Gemeinschaft, seit 1997 im Besitz eines Areals mit mehreren Lagerhallen und einem Jahresumsatz von gut 350.000 Euro, nicht mehr das Biotop für Aussteiger in christlicher Mission, das es früher mal war. Heute leben und arbeiten bei Emmaus größtenteils Menschen, die, so Does, „einen Lebensunfall erlitten haben“: eine bunte Mischung aus ehemaligen Obdachlosen, Ex-Drogen- und Alkoholabhängigen aller Altersgruppen. „Wir haben hier Leute, die aus dem Knast kommen, oftmals beziehungsunfähig sind“, erklärt Willi Does. „Die haben keinerlei Selbstwertgefühl. Wir versuchen, ihnen Mut zu machen, sich zu entwickeln. Und das geht am besten, indem sie arbeiten und ihren Lebensunterhalt selbst verdienen.“

Franz Opfergelt ist seit 1994 Mitglied der Kölner Emmaus-Familie. Damals war der Heizungsbauer und Lagerarbeiter aus Jülich seit drei Jahren arbeitslos und lebte seit sechs Monaten auf der Straße, als Kumpels ihm von der Alternative Emmaus erzählten. „Nicht nur die Arbeit, das ganze Umfeld hier hat mir gefallen“, sagt der 56-Jährige, während er gemächlichen Schrittes durch die Lagerhalle geht und hie und da grüne Preisschilder an Sofas und Sessel klebt. Franz Opfergelt ist Herr über das Möbellager. Der kräftig gebaute kleine Mann mit der schwarzen Wollmütze nimmt die Ware entgegen, sortiert, legt die Preise fest und berät die Kunden, die nachmittags zwischen 15 und 18 Uhr eine intakte, wenn auch schlichte Garnitur für Küche oder Wohnzimmer bei ihm suchen. Wohnungsauflösungen und Abholung besorgen seit seinem Leistenbruch jüngere Kollegen. „Ich werde wohl bis zum Ende hier bleiben“, sagt Opfergelt. „Aber ich will arbeiten, solange ich kann.“

50 Euro Taschengeld die Woche und Sachbezüge im Wert von gut 400 Euro im Monat erhält jedes Mitglied der Kölner Emmaus-Gemeinschaft. Einschließlich der Abgaben für die Sozialversicherung belaufen sich die Lohnkosten für jeden Einzelnen auf 750 Euro. „Mit dickem Geld ist hier nicht“, sagt Willi Does. Er betont, dass auch er und seine Frau sich keinen höheren Satz genehmigen. „Wenn wir hier schon die radikale Menschlichkeit praktizieren, gelten die Bedingungen auch für uns.“ Nur hätten sie als Familie mit vier erwachsenen Kindern, von denen das jüngste noch in der Gemeinschaft lebt, noch mal ein gesondertes Budget. Auch für die Rentner in den eigenen Reihen spare Emmaus eine kleine Rücklage an. Does: „Das sind wir ihnen schuldig.“

Emmaus bietet seit kurzem über die Kölner Sozialbehörde Jobs auch für Nichtmitglieder an. Im hinteren Teil der Halle mit Hausrat und Kleidung arbeitet die Ein-Euro-Mannschaft. Verkehrssprachen sind hier Russisch und Polnisch. Bis unterm Dach stapeln sich die blauen Mülltüten mit Klamotten, mehrere Frauen begutachten Mäntel, Hosen und Pullis, die für den Containerversand nach Südamerika vorgesehen sind; dort sollen sie nicht verschenkt werden, sondern neue Arbeitsmöglichkeiten und alternative Absatzmärkte schaffen. „Wir haben das Ein-Euro-Job-Wesen nach anfänglicher Skepsis akzeptiert“, sagt Willi Does, rückt sich die Brille zurecht und langt nach dem Tabakbeutel in seiner Westentasche. Missionieren wolle er die Leute nicht, sagt der Emmaus-Chef. „Aber wir versuchen natürlich, unsere Ideen von einer gerechteren Verteilung gesellschaftlichen Wohlstands rüberzubringen.“

Womöglich eine Investition in die Zukunft? „Wir haben tatsächlich ein Nachwuchsproblem“, sagt Willi Does und spielt damit, wie er betont, explizit nicht auf die drei seiner vier Kinder an, die die Gemeinschaft inzwischen verlassen haben, um eine Ausbildung zu machen und ihr eigenes Leben zu gestalten. Tatsache sei wohl, dass die Begeisterung junger Leute für ein Anliegen heute von kürzerer Dauer sei. „Das Leben zerfällt in Episoden“, meint der Mann, der Jahrzehnte lang Lumpen gesammelt und verkauft hat. Auch für Pascale und Willi Does ist eine neue Herausforderung denkbar. Ein kleiner Buchladen, das wär‘ schon was.