: Die Abschweifung als schöne Kunstform
STOFFRELEVANZ Romane müssen heute kurz und knackig sein? Ach was! Verena Roßbacher zeigt in „Schwätzen und Schlachten“, wie es anders geht – muss sich aber gegen ihren Lektor durchsetzen
Auch in diesem Buch gibt es selbstverständlich eine Handlung. Dass man das bei der Lektüre zwischendurch schon mal vergessen kann, ist aber kein Schaden. Es ist vielmehr ganz im Sinne der Schöpferin.
„Schwätzen und Schlachten“, der zweite Roman der Schriftstellerin Verena Roßbacher, berichtet gleich im ersten Satz von einem Mord. Nähere Einzelheiten dazu, von spärlichen Andeutungen abgesehen, gibt es nicht. Stattdessen wartet man einige hundert Seiten lang auf das Kapitalverbrechen, das sich im Verlauf der Handlung anbahnt. Irgendwann geht es dann tatsächlich zur Sache, doch anders, als man vermutet hätte.
Die Protagonisten der Geschichte sind die Freunde David Stanjic, Frederik von Sydow und Simon Glaser, die in Berlin leben und sich normalerweise zum gemeinsamen Musizieren treffen. Im Roman kommt es nur selten dazu, weil einer der Freunde, Simon, sich zu entziehen beginnt, oft unterwegs ist, ohne Auskunft darüber zu geben, wo er sich zu welchen Zwecken aufhält. Als David in Simons Wohnung ein Manuskript findet, in dem sehr konkret von Gewaltfantasien die Rede ist, machen sich Frederik und David, mit Vorliebe auf ausgedehnten Autofahrten, sehr besorgte Gedanken und beschließen, in dieser Angelegenheit zu ermitteln – mehr oder minder diskret –, um ihren Freund vor Schlimmerem zu bewahren.
Man ahnt bald, dass die Hauptsache dieser Detektivgeschichte eher Nebensache ist. Überhaupt scheinen die Nebensachen in dieser Geschichte den eigentlich relevanten Stoff zu bilden. Roßbacher erhebt die Abschweifung mit nuanciertem Witz zur Kunstform – und reflektiert im Monolog einer der Nebenfiguren ihr eigenes ästhetisches Programm: Ihr an Sigmund Freud geschulter Witz beruht zu großen Teilen auf der „zirkulären Form des Sprechens“, dem absichtlichen Den-Faden-Verlieren, nur um unerwartet wieder zur Sache zu kommen und die Handlung mit wenigen Sätzen weiter auf ihren Höhepunkt zusteuern zu lassen. Zuvor erfährt man am Rande allerlei Bedenkenswertes über gesellschaftliche Fragen, von der Aktualität der Psychoanalyse bis zum Holocaust und den (geringen) Aussichten auf eine zukünftige Normalität zwischen Juden und Deutschen. Die kulturellen Unterschiede zwischen Österreichern und Deutschen hingegen erkennt die in Österreich geborene Roßbacher im abweichenden Sprechen über die Flatulenz: Dort sage man „furzen“, hier „pupsen“ – das eine sei vulgär, das andere infantil.
Fast durchgehend streut Roßbacher dezente Kritik am Literaturbetrieb ein, lässt Frederik von Sydow wahlweise „Brandneue deutsche Literatur“ oder „Allerneueste Neue Literatur“ studieren, und Sätze der Bauart „Lässig sagt heute kein Mensch mehr“ bilden einen der diversen Running Gags, was der Erzählerin die eine oder andere Gelegenheit gibt, vermeintlich unsagbare Ausdrücke wie „Hoppala“ in ihren Text einzuschmuggeln. Selbst Verlagskolleginnen wie Eva Menasse bekommen einen indirekten Auftritt: Die titelgebenden „Quasikristalle“ aus Menasses jüngstem Roman werden bei Roßbacher in Gestalt von Polygonen zur grafischen Gestaltung der zahlreichen Kapitelüberschriften herangezogen, und die „aperiodischen“ Strukturen, die sich aus diesen Vielecken ergeben, helfen den beiden Detektiven am Ende gar bei ihrer kriminalistischen Arbeit.
Fehlt noch der Lektor Olaf, mit dem sich die Erzählerin im Berliner Café Liebling trifft und der ihr häufig nahelegt, die eine oder andere Passage zu streichen, um die Geschichte „kurz und knackig“ aufzuschreiben. Dass sich die Autorin fast ausnahmslos gegen dessen Vorschläge durchsetzt, versteht sich von selbst. Diese ironischen Spielereien sind jedoch nie Selbstzweck, sie gehören genauso zum Roman wie das Hinüberwechseln der Erzählerin in die Rahmenhandlung. Selbst die krudesten Brüche erscheinen bei Roßbacher zwingend, und ihre ernsten Anliegen trägt sie so humorvoll und leicht vor, dass man hier und da in die Falle zu tappen droht. Was man gern tut. Auch das gehört zu den großen Leistungen dieses Buchs. TIM CASPAR BOEHME
■ Verena Roßbacher: „Schwätzen und Schlachten“. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2014, 640 Seiten, 24,99 Euro