Abgang der Reformatoren

Mit dem Politiker Friedrich Merz (CDU) und der Moderatorin Sabine Christiansen (ARD) verlassen gleich zwei Protagonisten des inhaltsleeren Schröder’schen Reformdiskurses die mediale Bühne

VON RALPH BOLLMANN

Die beiden Meldungen folgten einander binnen wenigen Stunden, und auf den ersten Blick schienen sie nichts miteinander gemein zu haben. Gegen 14 Uhr ging die Ära der Fernsehmoderatorin Sabine Christiansen endgültig zu Ende, als das öffentlich-rechtliche Fernsehen den Namen der Nachfolgerin amtlich bekannt gab. Um 20 Uhr vermeldeten dann die Nachrichten, dass sich der CDU-Politiker Friedrich Merz aus der Politik zurückzieht.

Nimmt man eine dritte Meldung der vergangenen Tage hinzu, wird der Zusammenhang allerdings deutlicher. Am vorigen Freitag hatte der Bundestag bemerkenswert lustlos das „GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz“ beschlossen, im Volksmund auch „Gesundheitsreform“ genannt. Es war so etwas wie die Grabplatte auf jener zeitweise recht erregt geführten „Reformdebatte“, die ihren Ursprung im „Reformstau“ der späten Kohl-Ära hatte. Deren bevorzugtes Forum war seit Januar 1998 die sonntägliche Talkshow, in der Friedrich Merz zeitweise als Dauergast fungierte.

Erst im Nachhinein wird deutlich, dass die Konjunktur des Reformbegriffs weitgehend mit der rot-grünen Regierungszeit zusammenfiel. Sie begann 1998 mit Gerhard Schröders großspurigem Wahlkampf der „neuen Mitte“. Und sie endete mit der Bundestagswahl 2005, als die SPD mit einer betont sozialkonservativen Kampagne den Höhenflug einer wirtschaftsliberal gewendeten Union jäh stoppte. Im Ringen um die Gesundheit wiederholten sich die Muster der Reformdebatte dann nur noch als müde Farce – bis am Ende selbst Friedrich Merz begriffen hatte, dass es nun zu Ende war.

Diese Unlust spiegelte sich zuletzt auch in den schwindenden Einschaltquoten des Sonntagsabendtalks. Dabei war die Inhaltsleere der Sendung, anders als Medienkritiker unkten, keineswegs den bescheidenen Fähigkeiten der Moderatorin geschuldet. Ganz im Gegenteil hatte der inhaltsleere Reformdiskurs, der die sieben Schröder-Jahre beherrschte, in „Christiansen“ seine perfekte mediale Verkörperung gefunden.

Denn anders als etwa in Fragen von Bürgerrechten, Umwelt oder selbst der Außenpolitik hatte ausgerechnet eine SPD-geführte Regierung in den angeblich zentralen Fragen der Wirtschafts- und Sozialpolitik keinen Plan – außer, dass sie irgendwie „modern“ sein wollte. Das führte vom Abgang Oskar Lafontaines über Holzmann und Hartz IV bis hin zur finalen Heuschrecken-Kampagne zu einer schier endlosen Kette abrupter Kurswechsel. Bis der Begriff „Reform“ am Ende so heruntergewirtschaftet war, dass die „Stiftung neue soziale Marktwirtschaft“ auch mit Appellen an die „Reform der Reformfähigkeit“ nichts mehr ausrichten konnte.

Die sehr deutsche und zutiefst unpolitische Erwartung, der Staat solle losgelöst von allen Eigeninteressen eine objektiv richtige Reformpolitik betreiben, fand ihre Projektionsfläche in einem sehr deutschen und zutiefst unpolitischen Menschen: Friedrich Merz. Ob als Fraktionsvorsitzender oder später dann als Finanzsprecher, ob mit rüden Interview-Attacken gegen die Parteivorsitzende Merkel oder selbst mit seinem Bierdeckelmodell für die Steuererklärung: Stets ließ Merz jedes Gefühl für die politischen Grundrechenarten vermissen, für Taktik und Kompromiss, für die rechte Balance von Loyalität und kalkulierter Rebellion. Hinzu kam im Umgang mit den Machtansprüchen einer Frau eine auffallende Unsicherheit, die Merz freilich mit dem bayerischen Ministerpräsidenten Edmund Stoiber teilte.

Viele sahen in Merz den Rebellen gegen eine vermeintlich abgehobene Politik. In Wahrheit war es jedoch Merz, der abgehoben argumentierte gegen eine Politik, deren vielfältige Kompromisszwänge am Ende doch nichts anderes sind als zumindest eine letzte Reverenz an die vielfältigen Friktionen der Wirklichkeit. Für Merzens Furor gegen Steuervergünstigungen aller Art, von der Pendlerpauschale bis zu den Nachtzuschlägen, mag es durchaus gute Gründe geben. Wer aber stets alles auf einmal will, der wird – wie Merz – am Ende nichts erreichen. Noch dazu, wenn er stets den Eindruck erweckt, als ob er von den Nöten der Pendler und Nachtarbeiter gar nichts wüsste.

Vor allem aber fehlt Merz just jenes Sensorium, das für wirkliche Politiker schon immer das Wichtigste gewesen ist: das Gefühl für den „kairos“, den günstigen Augenblick. Selbst politische Freunde mussten dem Sauerländer mehrfach attestieren, dass er für seine unbedachten Attacken oft den falschesten Zeitpunkt gewählt hatte. Jetzt hat er es endlich geschafft: Sein Abgang, zeitgleich mit Christiansen, war perfekt terminiert.