Der Alltags-Verleger

Mitten in „Klein-Mexiko“, einer winzigen Bremer Arbeitersiedlung, sitzt Jan Frey und produziert ein einzigartiges Magazin. Als Herausgeber, Texter, Akquisiteur und Fotograf in einer Person nimmt er mit nüchternen Reportagen das nahe Liegende in den Blick – also die großen sozialen Themen

Leben in der Vorstadt: Mit geschlossenen Augen in den Bus setzen, auf die Veränderung bekannter Plätze lauschen

Von Henning Bleyl

Am Anfang war die Oma. Wenn Jan Frey erzählt, wie er zum Macher des Bremer Vorstadt-Magazins Klein Mexiko wurde, zeigt er als erstes ein Foto der alten Ostfriesin. Wacher Blick, Spottlust in den Augen, „die konnte sehr hitzig sein“, also zum Fürchten. Ihr Gatte war Obertriebwagenführer. Der für einen Text über Jan Frey entscheidende Umstand allerdings ist die von Oma Wilhelmine geerbte Sprachbegabung.

„Dat is min School, Jakob in’t Regool. Dat is min Jacke, Josef in der Backe.“ Wilhelmine reimte, wo sie stand und ging, ihr Enkel beobachtet: Frey schreibt, gestaltet und vertreibt seit zehn Jahren ein Magazin, das sich ausschließlich dem Alltag widmet. Er setzt sich mit geschlossenen Augen in den Bus. Er beschreibt die Veränderungen auf immer wieder aufgesuchten Plätzen. Er steht zwölf Stunden am Sielwall, einem der Bremer Drogenumschlagplätze, und dokumentiert die ihm dort begegnenden Lebensgeschichten. Frey interviewt Polizisten und den türkischen Händler, der 1977 den ersten Imbiss am Steintor eröffnete. All das ist Klein Mexiko – Alltag in der Vorstadt.

Jan Frey ist noch viel mehr. Er ist Zeitungsausträger, Germanist, Erbe des Fotoapparats seines Vaters und Bewohner eines 57 Quadratmeter Grundfläche messenden Hauses in Klein-Mexiko. Ebenso wie das Magazin ist die namensgebende Siedlung ein Ort der kleinen Leute: In den Zwanzigern gebaut, verschrien als Hochburg der Kommunisten, benannt nach dem damals dauerrevolutionären Mexiko. Vor 23 Jahren kam Frey über einen Tipp aus dem DKP-Buchladen hierher. Aber eigentlich, sagt der dünne Mann, seien die 800 Klein-MexikanerInnen längst verbürgerlicht.

Auch hier ist Frey ein Einzelgänger. Er meidet die gemeinsamen Sommerfeste. Aber Opa Vedder, einen der Ureinwohner, hat er noch interviewt. Er begreift sich als „Dokumentar-Journalist“. Frey zeigt alte Schulhefte: Vom Lateinlehrer hat er das analytische Denken gelernt, seinem Kunstlehrer ist er für die zeichnerischen Fähigkeiten dankbar – Frey ist auch Illustrator seines Magazins. Vier Lebensbereiche hat er in diesen dicken Readern bereits abgehandelt: Kinder, Drogen, Alter und Immigration. Der Tag eines Obsthändlers, begleitet von 5.20 bis 19 Uhr. Die Tour einer mobilen Altenpflegerin, alle sechs Minuten ein Bild. Freys Reportage-Stil ist nüchtern, präzise, vorbehaltlos, der Erkenntniswille bricht sich auch in mühsam zusammengesuchten Statistiken etwa über die Migrationsbewegungen der 60er Jahre seine Bahn. Frey vertieft sich in die großen sozialen Themen seines Umfeldes, investiert Monate oder gar Jahre, bis er wieder genügend Material für eines seiner Schwerpunkt-Hefte beisammen hat.

Noch ein Foto: „Das ist mein Kopf.“ Ein Kopf ohne Haare – 1990 musste Frey eine Chemotherapie über sich ergehen lassen. Später verlor er seinen EDV-Job in einem Ingenieurbüro und erfüllte sich daraufhin den Traum vom eigenen Kleinverlag. Heute ist er überzeugt: „In einem winzigen Maßstab habe ich etwas für das Innenleben dieser Stadt getan.“

Jan Frey ist ein Feldforscher, der die Terrains seiner Beobachtung mit gutem Gefühl wieder verlassen kann. Sowohl Polizisten als auch die Junkies grüßen ihn, wenn er heute am Sielwall entlanggeht, alle schätzen die Aufmerksamkeit, die er für ihre jeweiligen Perspektiven aufbringt. Noch etwas liegt auf dem Tisch, auf dem Frey die Ingredienzen seiner Existenz symbolisch ausbreitet: Ein – derzeit zehnbändiges – Verlagstagebuch. Schließlich will so ein Leben zwischen frühmorgendlichem Zeitungsaustragen, Lateinnachhilfe und Magazinmachen wohl organisiert sein: „Das sind die täglichen Dienstbesprechungen mit mir selbst.“

Frey ist offenbar jemand, den man machen lässt. Der Sparda-Filialleiter hat dem damals Langzeitarbeitslosen ein Verlags-Sonderkonto eingerichtet. Und in einer Zeit, als von Ich-AGs noch keine Rede war, ließ ihm das Arbeitsamt freie Hand. Doch obwohl bemerkenswert viele Einzelhändler Kleinanzeigen schalten, ist ökonomisch mit Klein Mexiko – bei 500er- bis 1.000er-Auflagen und zwei Euro Verkaufspreis – nicht viel zu holen. Doch der publizistische Erfolg gibt Frey Recht: Klein Mexiko ruft auch überregional ein beachtliches Echo hervor. Die Frankfurter Rundschau zum Beispiel nannte das Magazin „eine der ungewöhnlichsten Zeitschriften Deutschlands“, das indonesische Programm der Deutschen Welle hat berichtet, und der Computer Anzeiger macht ausgiebig auf die Online-Ausgabe aufmerksam. Auf diesem Weg ist die Existenz des kleinen mexikanischen Dorfes am östlichen Rand von Bremen hier und da bekannt geworden.

Es ist noch nicht lange her, dass Frey zum ersten Mal „Leichenbitter“ sein durfte. Also der, der von Haus zu Haus geht und den Tod eines Nachbarn oder einer Nachbarin bekannt gibt – „da hatte ich das Gefühl, akzeptiert zu sein“. Im Grunde aber sucht sich Frey sein Forum längst im grenzenlosen Bereich. Er hat sich in die „hohe Schule des HTML“ eingearbeitet, „weil ich wollte, dass das auch woanders gelesen wird“. Seit fünf Jahren ist Klein-Mexiko im Netz, also zum globalen Projekt geworden.

Woche für Woche schreibt Frey seine digitalen Kolumnen (www.kleinmexiko.de), in Phnom Penh hat er einen Seelenverwandten gefunden: Charly Dittmeier, dessen „Daily Life in Cambodia“ mit seinem eigenen „Daily Groove“ verlinkt ist. Frey packt noch zwei Dictionaries auf den Tisch: „Mit meinem Deutsch kam ich mir sehr provinziell vor.“ Frey muss mit seinen Kräften haushalten, trotzdem ist er auch noch Übersetzer in eigener Sache geworden.

Dabei ist Frey keiner, für den das Alles-alleine-Machen Programm ist. Online ist eine literarische Gattung hinzugekommen, die „WKKP“. Die Abkürzung steht für „winzig kleine Katzenpost“, als „Cat’s Talk“ zieht sie ihre Bahn durchs World Wide Web. Genauer gesagt, ist Christine Cimbal-Marocke zu Jan Freys Leben dazu gekommen. Seine Frau schreibt die tierzentrierte Postille, lektoriert die englische Gesamtausgabe, hat die obere Hälfte des Häuschens gekauft und Frey – so formuliert er selbst – vor der Verwahrlosung bewahrt. „Eine meiner großen Überzeugungen ist: Der Mensch ist ein Halm im Wind“, sagt Frey. Ihn selbst hat es schon in viele Richtungen geblasen. Was seine Notizen über die anderen Halme umso authentischer macht.