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Archiv-Artikel

crime scene Erschreckend normal: Ein Traumatisierter und eine Tote planen einen Anschlag auf die Kölner U-Bahn

Die U-Bahn ist ein Unort, nicht gemacht und gedacht zum Verweilen. Jeder, der in der Großstadt mit öffentlichen Verkehrsmitteln unterwegs ist, kennt das leichte Unbehagen, das sich einstellt, wenn die Bahn ohne ersichtlichen Grund mitten im Tunnel anhält – und die unwillkürliche Erleichterung, wenn sie danach ohne Zwischenfall die nächste Station erreicht hat. Auf unterschwellige Gefühle dieser Art zielt Thomas Kastura mit seinem Köln-Krimi „Der vierte Mörder“, der damit beginnt, dass ein Mann in der U-Bahn verbrennt. Diese unschöne Szene, deren Vorgeschichte in der ersten Hälfte des Romans aufgerollt wird, ist aber nur Vorbote einer unterirdischen Apokalypse, auf deren Erwartung wir eingestimmt werden. Denn in diesem vielstimmigen Psychothriller übernimmt ein Geisteskranker eine Hauptrolle: Der Buchhändler Johan Land hat vier Jahre zuvor seine Frau Marta verloren, als ein Unbekannter sie vor die einfahrende U-Bahn stieß; ein schweres Trauma, dessen Verarbeitung Land durch die besonderen Umstände der Beziehung zu Marta erschwert wird. Denn er lebte mit der Verstorbenen, die am Borderline-Syndrom erkrankt war, in einer Folie à deux, in der er selbst die Wahnvorstellungen seiner geisteskranken Frau übernommen hatte. Auch nach Martas Tod ist diese Beziehung nicht beendet, denn noch Jahre danach hört er ihre Stimme im Kopf. Gemeinsam mit ihr plant er einen grausigen Anschlag: Die Menschen, die damals dabei waren und nicht halfen, Marta zu retten, sollen zum Jahrestag ihres Todes – ausgerechnet am Tag vor Weihnachten – in der U-Bahn verbrennen.

Doch es ist dies kein simpler „Tut er’s oder tut er’s nicht?“-Roman, denn bald kommt man zu dem Schluss, dass Johan wahrscheinlich nicht für den ersten U-Bahn-Mord verantwortlich ist. Ein zweiter, mit dem ersten verschlungener Handlungsstrang entwickelt sich, eine Rachegeschichte, bei der ein junges Mädchen mit Hilfe eines Freundes Vergeltung für ihr angetane Vergewaltigungen übt. Doch werden diese beiden tatsächlich zu Mördern, oder ist ein dritter Gewalttäter im Spiel? Erst als es eigentlich schon zu spät ist, um noch viel Schlimmes zu verhindern, kommt der ermittelnde Kommissar auf den Gedanken, dass es sogar noch einen vierten Mörder geben muss.

So komplex die Handlungselemente geschachtelt werden, so souverän hat Kastura die Erzählfäden in der Hand. Seine Figuren sind glaubwürdig und bleiben bei aller Drastik ihrer Handlungen erschreckend normal. Das unterscheidet diesen Roman von einem Psychothriller amerikanischer Machart: Er zeigt nicht den Einbruch extremer Gewalt in den Alltag, sondern einen Alltag, in dem Gewalt ihren festen Platz hat. Eine Frau wird vor die U-Bahn gestoßen, ohne dass jemand einschreiten kann. Eine andere wird von ihrem Mann über Jahre geschlagen, und ihre Tochter muss hilflos zusehen. Auf extreme Erfahrungen reagiert man mit extremen Handlungen. So überwinden Kasturas Figuren die Schwelle zur äußersten Gewalt mit Leichtigkeit, ohne dass dies im Geringsten monströs erschiene. Es ist nur menschlich.

Angesichts dieser frösteln machenden Erkenntnis spendet der Polizei-Handlungsstrang Trost, in dem nicht nur ein sympathischer Kommissar den Fall löst, sondern nebenbei auch den Intriganten und Ausbremsern im Polizeiapparat das Handwerk gelegt wird. Das tut gut, kommt aber – genau wie das großzügig aufgetragene Kölner Lokalkolorit – auch ein klein wenig betulich daher. Die Handlung entwickelt sich insgesamt in einem eher bedächtigen Tempo, was es sehr erleichtert, das Buch immer mal wieder wegzulegen. Das geht aber durchaus in Ordnung für einen Krimi, der nicht auf vordergründige Effekte zielt, sondern die Motive und Traumata seiner Charaktere ernst und sich die nötige Zeit nimmt, sie zu entwickeln. Gern jederzeit wieder! KATHARINA GRANZIN

Thomas Kastura: „Der vierte Mörder“. Droemer, München 2006, 510 Seiten, 19,90 Euro