: Himbeerbowle in der Pause
VOLKSTHEATER Viel nacktes Bein und schmissige Lieder: Das hat man wohl auch erwartet, wenn sich das Theater am Kurfürstendamm dem „Blauen Engel“ widmet. Ein Stelldichein des alten Westberlins mit TV-Serienstars
VON NINA APIN
Der „Blaue Engel“ im Theater am Kurfürstendamm – mehr Westberlin geht nicht. Wenn der 1930 im benachbarten Gloria Palast uraufgeführte Film im letzten Amüsierbetrieb des Ku’damms gegeben wird, klingt das nach: Berliner Weiße und Witwen im Pelz.
Schon der erste Blick ins knallvolle Foyer am Sonntagabend bestätigt die Annahme, dass dieser Abend zugleich ein Gesellschaftsereignis ist, ein Stelldichein des alten Westberlins. Viel Taft, viele Einstecktücher, viel Goldschmuck sind zu sehen, die in der überwiegenden Mehrheit ergraute Gemeinde scheint zum Stammpublikum des Hauses zu gehören, man kennt sich. Die Aufführung beginnt mit Verspätung – was dem Publikum Zeit gibt, sich die Hälse zu verrenken nach Promis wie Rolf Eden, Friede Springer, Eberhard Diepgen und Till Brönner. Damit auch nicht das kleinste bisschen Glamour verloren geht, bekommen Pressevertreter eigens eine Liste mit allen Namen ausgehändigt.
Dann geht es los. Der Stoff ist bekannt, die historische Vorlage weltberühmt: Die auf einem Roman von Heinrich Mann basierende Geschichte vom gestrengen Gymnasiallehrer Professor Unrat, der an seiner Liebe für die Tingeltangel-Tänzerin Lola zugrunde geht, machte Marlene Dietrich in der Verfilmung von Josef von Sternberg zum Weltstar. Der Friedrich-Hollaender-Song „Ich bin von Kopf bis Fuß auf Liebe eingestellt“, von der Dietrich in Straps und Zylinder auf einem Fass sitzend dargeboten, gehört zur Ikonografie des erotischen Kabaretts.
Formkorsett mit Straps
Diesem Formkorsett versucht die blonde Hauptdarstellerin Eva-Maria Grein von Friedl, dem ZDF-Publikum als Telenovela-Star „Tessa“ bekannt, denn auch nach Kräften zu genügen: Sie hat die Figur, die Reizwäsche, eine volle Stimme und natürlich einen weißen Zylinder auf den blonden Locken. Schmissig und erstaunlich derb schmeißt sie ihre Beine durch das Revuetheater, das im Bühnenbild Teil eines großen Glitzerkarussells ist. Eine Drehung weiter zeigt den ZDF-Landrat und Volksschauspieler Walter Plathe als Professor Immanuel Rath im Clinch mit seinen pubertierenden Schülern. Hier die feuerzangenbowlenhafte Bürgerlichkeit der Pennäler, dort die glitzernde Halbwelt des Tingeltangel, schon bald treffen sich beide, das Unheil nimmt seinen Lauf.
Überraschungen sind von Peter Turrinis Bühnenfassung und Klaus Gendries’ Regie nicht zu erwarten, man bleibt der Filmvorlage treu. Auch die Kostüme (Martin Rupprecht) tun ihr Übriges. Alles ist, was es ist: Die Lola ist schön und dank Beate-Uhse-Fummel ein bisschen ordinär, in zahlreichen Hollaender-Gassenhauern – Nimm dich in Acht vor blonden Frau’n! – kann sie zeigen, was sie drauf hat. Fürs echte Varietéfeeling hat man ihr einen depperten Clown mit Nase (Benjamin Plath) und das abgetakelte Varietébesitzer-Ehepaar (Reiner Heise und Maria Mallé) zur Seite gestellt. Just als der Laden richtig brummt und die Schüler sich in Lolas Künstlergarderobe festgetrunken haben, platzt der Professor im schwarzen Frack herein, um nach dem Rechten zu sehen. In wenigen Szenen wird aus der wilhelminischen Spaßbremse ein sabbernder Lustgreis, der sich prügelt und schließlich den Schuldienst quittiert, um mit der feschen Lola als Ehemann und Ehefrau zusammenzuleben.
Reicher Szenenapplaus
Das hier ist Volkstheater ohne Wenn und Aber. Erstaunlich ist die Euphorie des Publikums, das nicht nur reichhaltigen Szeneapplaus spendet, sondern nach jeder halbwegs gelungenen Revue-Einlage (von denen es viele gibt) klatscht.
In der Pause gibt es überteuerten Sekt und Himbeerbowle, für die Herren Bier. Was als Aufmunterung nicht schaden kann, denn in der zweiten Hälfte hat das Stück seine Längen. Besonders die penetrante Gegenüberstellung der jungen, attraktiven Lola mit der dicken, gealterten Frau Kiepert beginnt zu nerven. Als die Alte sich im Mieder präsentiert und für ihre schlaffen Brüste und faltigen Arme Aufjaulen aus dem Publikum erntet, wirft man doch einen irritierten Blick in die Runde und fragt sich, warum so viele Frauen (und Männer) jenseits der Sechzig so großen Spaß am öffentlichen Verlachen eines gealterten Frauenkörpers haben. Während es im Gegenteil überhaupt nicht lächerlich ist, dass sowohl der alte Professor als auch die alten Männer im Saal sich an der weidlichen Zurschaustellung des jungen Lola-Fleisches laben.
Doch das Stück wäre kein echtes Volksstück, bediente es nicht am Ende auch weibliche Rachefantasien: Zur Strafe für seine Frivolität endet Unrat als heruntergekommener Clown, der sich vor seinen ehemaligen Schülern demütigen lassen muss. Und Lola muss sich, nachdem sie die Ersparnisse des Profs vershoppt hat, wieder jeden Abend ausziehen. Die Niedertracht, mit der die zur fiesen Schlampe mutierte Lola und der Kompaniechef ihren neuen Clown herumschubsen und zum Eierlegen mit Kikeriki zwingen, gehört zu den wenigen tollen Momenten der Show.
Welches Fazit man nach so einem Abend dann ziehen kann, formulierten im Hinausgehen zwei grauhaarige Damen: „Ganz passabel, schöne Lieder – aber sie ist halt doch nicht die Dietrich.“
■ Nächste Termine: 8., 9., 10. März im Theater am Kurfürstendamm