: Todesfallen im Zitronenhain
Zentimeter um Zentimeter arbeiten sich die Männer auf den Knien voran. In einer Zehnerkette rutschen sie Meter für Meter weiter auf dem lehmigen Boden. Ihre dicken blauen Schutzwesten und die Helme mit dem Gesichtsschutz aus dickem Plexiglas zeigen, dass sie mit dem Schlimmsten rechnen müssen. Vorsichtig tasten sie die dunkle Erde nach Anzeichen nicht explodierter israelischer Streubomben ab. Je weicher der Boden, desto risikoreicher die Arbeit. Manche der Bomben können vom Schlamm bedeckt sein.
Geduld ist der wichtigste Arbeitsbegleiter der Streubombensucher in dem friedlich anmutenden Zitronenhain im Südlibanon. Die mit roten Totenkopfschildern markierte geschätzte Abwurfstelle unweit der Stadt Tyros umfasst etwa 30.000 Quadratmeter. Meist wurden von den israelischen Kampfjets immer zwei Streubombenkanister gleichzeitig abgeworfen, die wiederum 1.200 Sprengsätze auf einem Areal von einem halben Fußballfeld um sich herumverteilten.
Die Überreste des Libanonkrieges vom Juli und August dieses Jahres sind heute Todesfallen. An dem Ort, an dem die von der britischen Organisation Mines Advisory Group, trainierten Libanesen über den Boden kriechen, waren gleich mehrere Streubombenangriffe geflogen worden. Mindestens 20 Tage wird der Räumtrupp im Auftrag der Vereinten Nationen und des libanesischen Staates brauchen, um alle Sprengsätze einzusammeln und die Ostplantage wieder für sicher erklären zu können.
813 Abwurfstellen sind bekannt
Nach UN-Schätzungen hat Israel bei den Kämpfen im Juli und August mindestens 3 Millionen Streubomben eingesetzt, die meisten davon in den letzten drei Kriegstagen. Der Zitronenhain bei Tyros ist einer von vielen Orten, an denen der Krieg fortdauert. Auf der großen Landkarte, die im UN-Koordinationsbüro für die Streubombensuche in Tyros an der Wand hängt, sind die Abwurfstellen rot mit Punkten markiert. Der Südlibanon gleicht einem Gesicht auf dem Höhepunkt einer Masernerkrankung. „Wir haben 813 Abwurfstellen bis zum 13. November registriert, berichtet Dalia Farran, die in dem Koordinationsbüro für die UN die Öffentlichkeitsarbeit leitet. „Notieren Sie sich bitte auch das Datum, denn wir finden immer wieder neue Abwurfstellen.“
Die UN gehen davon aus, dass etwa eine Million Streubomben nicht explodiert sind. Farran führt ihr nüchternes Zahlenspiel fort: Bisher konnten gerade einmal 58.000 Sprengsätze entschärft werden. Seit dem Waffenstillstand wurden 166 Menschen durch Kontakt mit Streubomben verletzt. 23 davon haben nicht überlebt. Ein Drittel der Opfer sind Kinder.
Die örtliche Bevölkerung verhält sich oft unbeholfen und ahnungslos gegenüber den tennisballartigen oder zylinderförmigen Sprengsätzen mit weißem Band. In Sauter, einem südlibanesischen Dorf bei Nabatija, hatte ein Schüler vor zwei Wochen eine scharfe Streubombe in die Klasse mitgebracht. Der Lehrer hatte sie zunächst einfach in den Abfall geworfen. Als er dann doch noch die Streubombensucher der UN informierte, konnten die kaum fassen, dass der Sprengsatz nicht in der Schule explodiert war.
In einem anderen Fall hatte ein Bauer einen ganzen Karton voll Streubomben gesammelt und bei sich zu Hause abgestellt. „Wir konnten die Sprengsätze nicht im Haus entschärfen und mussten den Karton erst vorsichtig nach draußen bringen, bevor wir die ganze Ladung in die Luft gejagt haben“, erinnert sich Magnus Rundström, technischer Berater der Mines Advisory Group.
Mittagspause im Bombenfeld
Während der stämmige Schwede am Rande des Zitronenhains die Arbeit koordiniert, sitzt eine Gruppe von Landarbeitern mitten im Streubombenfeld und hält Mittagspause. Rundström hat es aufgegeben, die Arbeiter wegzuschicken. Deren Risikokalkulation ist einfach: „Die Streubomben liegen unter den Zitronenbäumen, die Geld bedeuten, das ihr Überleben sichert“, fasst er zusammen. Die Bauern können es sich schlicht nicht leisten, Angst vor den Streubomben zu haben.
Entscheidend für die gefährliche Nachkriegswirkung der Streubomben ist ihre Ausfallrate. Normalerweise liegt die Rate der nicht explodierten Sprengsätze bei 10 bis 15 Prozent. Im Südlibanon aber sind an manchen Orten bis zu 40 von 100 Streubomben nicht gezündet worden. „Manche der von uns gefundenen Sprengsätze hatten ein Ablaufdatum aus den 70er-Jahren“, beklagt Farrar.
In der israelischen Tageszeitung Ha’aretz wurde letzte Woche von einem weiteren, zynisch anmutenden Grund für die hohe Ausfallrate berichtet. Obwohl die israelische Militärindustrie selber Streubomben produziert, hat die israelische Armee im Libanonkrieg mehrheitlich wesentlich weniger verlässliche Streubomben aus US-Produktion verwendet. Der Grund: Die amerikanischen Streubomben waren ein Geschenk aus Washington, ein Teil des jährlichen 3-Milliarden-Pakets der US-Militärhilfe an Israel. „Es war eine Budgetüberlegung“, wird eine nicht namentlich genannte Quelle aus dem israelischen Militär zitiert. In Israel produzierte Streubomben hätten 10 Dollar das Stück gekostet. Fast sämtliche im Libanon verwendete Streumunition stamme aus den USA, erklärten israelische Artilleriesoldaten gegenüber Ha’aretz, obwohl deren Ausfallrate im Irakkrieg bereits bei 30 Prozent gelegen habe. Die israelische Armee hätte auch ältere US-Modelle mit eine noch größeren Ausfallrate verwendet, geben sie zu. Das israelische Produkt habe dagegen nur eine Ausfallrate von 1 bis 2 Prozent, so die Zeitung weiter.
98 Prozent zivile Todesopfer
Der Einsatz von Streubomben ist nicht illegal. Aber laut Genfer Konvention soll diese Waffe nur gegen militärische Ziele eingesetzt werden. Die Realität sieht anders aus. Nach einer Studie der Gruppe Handicap International sind in 98 Prozent der durch Streubomben verursachten Todesfälle die Opfer Zivilpersonen, darunter viele Kinder.
Norwegen hat nun letzte Woche eine internationale Konferenz angeregt, um ein absolutes Verbot dieser Waffen voranzutreiben. Auch das Europaparlament hat sich in den vergangenen Tagen für ein Verbot der Waffen ausgesprochen. Die Vereinten Nationen fordern ebenfalls, den Einsatz von Streubomben sofort zu beenden.
Ähnlich wie Minen können Streubomben ganze Landstriche auf Jahre hinaus kontaminieren und unzugänglich machen. Die UN beklagt im Falle des Südlibanon, dass sie von israelischer Seite bisher kaum bei der Entschärfung der Sprengsätze Unterstützung erhalten hat. „Wir haben immer wieder in Israel nachgefragt, in welchen Mengen und wo genau die Streubomben abgeworfen wurden. Bisher haben wir nichts erhalten“, beschwert sich Farran. Einmal habe die israelische Seite ein paar Karten präsentiert, die aber zu unspezifisch und daher unbrauchbar gewesen seien. „Bisher haben wir alle unsere Information vor Ort im Südlibanon sammeln müssen“, sagt sie.
Am frühen Nachmittag geht die mühsame Streubombensuche im Zitronenhain zu Ende. Sechs Streubomben werden gefunden und mit Holzpflöcken und rot-weißem Baustellenband markiert. So groß wie ein Tennisball und mit Erde beschmiert, ähneln sie auf gefährliche Art dem Fallobst, das hier überall verstreut herumliegt. Jetzt ist es an der Zeit, sie Stück für Stück durch eine kontrollierte Sprengung zu entsorgen. Aus sicherer Entfernung von 200 Metern beobachten die Männer die erste Zündung. Ein lauter Knall, die Erde spritzt durch die Luft, über den Zitronenbäumen steigt eine Rauchwolke auf – der Libanonkrieg hat einen fatalen Restposten weniger.