: Erzähler der Lieblosigkeit
Hausbesuch bei einem Hartnäckigen: Der Schriftsteller Rudolf Lorenzen wurde oft entdeckt – und dann doch immer wieder vergessen. Gerade ist ein Band mit Erzählungen des inzwischen 85-Jährigen erschienen. Eine Werkschau ist in Vorbereitung
von ANTJE LANG-LENDORFF
Rudolf Lorenzen wählt seine Worte mit Bedacht. Er wendet sie in Gedanken hin und her, betrachtet sie von allen Seiten und spricht sie erst aus, wenn er sich ihrer sicher ist. Man muss es deshalb ernst nehmen, wenn er sein Leben vor allen Dingen als „folgerichtig“ bezeichnet. Was heißt das, „folgerichtig“? Freude und Leid, Hoffnung und Enttäuschung finden keinen Platz in diesem kleinen Wort. Es reduziert das Leben auf den Zusammenhang von Ursache und Wirkung. Es klingt nach Fremdbestimmung, als hätte Lorenzen oft keine Wahl gehabt. „Alles war so, wie es sein sollte. Ich habe immer so gehandelt, wie ich handeln musste“, sagt er mit etwas kehliger Stimme.
Da sitzt er nun, der Schriftsteller, nach 85 Lebensjahren. Haare und Bart sind längst ergraut. Mit hellen Augen blickt er einen an, auch wenn er gerade nichts sagt. Er hatte einen Schlaganfall, seitdem benutzt er den Rollstuhl. Seine Frau, die dritte, hat neben ihm Platz genommen. Seit vielen Jahren leben sie zusammen in der weitläufigen Altbauwohnung gleich neben dem Kurfürstendamm. Das Parkett ist gepflegt, die Bücherregale reichen bis unter die Decke.
Lorenzen erzählt. Von seiner Kindheit in Bremen, seiner Ausbildung zum Schiffsmakler. Von der Tanzschule und der Hitlerjugend. Vom Krieg, den er als Funker an der Ostfront erlebte. Und von der russischen Kriegsgefangenschaft. Erst nach dem Krieg zieht er nach Berlin und beginnt zu schreiben.
Sein Debüt gibt Lorenzen mit dem in großen Teilen autobiografischen Roman „Alles andere als ein Held“. Realistisch und chronologisch, ohne Schnörkel erzählt er die Geschichte eines gewöhnlichen Deutschen, der sich anpasst und so seinen Weg durch die Wirren des 20. Jahrhunderts findet. Ein bemerkenswertes Buch. Doch unglücklicherweise kommt es im Romanjahr 1959 heraus. Fast zeitgleich erscheinen Günter Grass’ „Blechtrommel“, Uwe Johnsons „Mutmaßungen über Jakob“ und Heinrich Bölls „Billard um halb zehn“. Neben diesen Riesen der Nachkriegsliteratur bleibt nicht viel Platz für einen wie Lorenzen. Der literarische Geschmack der Zeit ist von der Gruppe 47 geprägt und orientiert sich eher an experimentellen Erzählformen.
Der große Sebastian Haffner sagt später: „Ich bin gar nicht sicher, ob ‚Alles andere als ein Held‘ nicht der beste Roman irgendeines heute lebenden deutsch schreibenden Autors ist.“ Doch da ist das Buch bereits vergriffen. Lorenzen schreibt drei weitere Romane, auch „Alles andere als ein Held“ wird später neu aufgelegt, zuletzt noch einmal 2002 im Schöffling Verlag. Doch zum großen Durchbruch kommt es nicht. Immer wieder wird Lorenzen gut besprochen, neu entdeckt. Und dann doch wieder vergessen.
Wie ist er all die Jahre mit der Enttäuschung umgegangen? Lorenzen winkt ab. „Ich habe das hingenommen“, sagt er. Wenn man einen Laden besitzen würde, könne man auch nicht gleich schließen, nur weil keine Kunden kämen. „Dann muss man eben weiterarbeiten. Wenn man einmal angetreten ist als Schriftsteller, dann muss man das auch durchhalten.“
Handeln, wie man handeln muss. Weitermachen. Alles hinnehmen und als folgerichtig erkennen. Das ist Lorenzens Art, aus seinem Leben eine versöhnliche Geschichte zu formen. Man kann es verstehen. Es lief nicht schlecht für ihn. Aber es hätte auch besser laufen können.
Sechs Stunden am Tag sitzt der 85-Jährige heute noch am Computer, sieht geschriebene Texte durch. Gerade ist eine Auswahl von Erzählungen aus den 60er- und 70er-Jahren erschienen: „Kein Soll mehr und kein Haben“ (Verbrecher Verlag, 258 Seiten, 13 Euro). Er arbeitet an einem Roman über seine Familiengeschichte. „Ohne Liebe geht es auch“ soll das Buch heißen. „Ich stamme aus einer lieblosen Familie. Bei uns liebte keiner den anderen“, sagt Lorenzen. Konventionen seien immer wichtiger gewesen als die persönlichen Beziehungen.
Die großen Gefühle findet man auch in den Erzählungen nicht. Eine gewisse Teilnahmslosigkeit bestimmt den Grundton. Es passieren groteske Dinge, eine Frau wird vergewaltigt, ein kleines Mädchen missbraucht. Die Protagonisten nehmen all das hin, überspielen es, wahren den Schein. „Dass die Menschen sich alle etwas vormachen, das ist mein Thema“, sagt Lorenzen. Er will nicht moralisieren, er erzählt unaufgeregt. Die Empörung über die Doppelmoral der Nachkriegsgesellschaft überlässt er dem Leser. „Man muss sich von den Gefühlen trennen beim Schreiben. Man muss die Dinge realistisch erzählen.“
Das heißt für Lorenzen vor allem: in allen Einzelheiten. Historische Wahrheit liegt für ihn im Detail. Erst die Kleinigkeiten schaffen Authentizität. Im Krieg habe er einmal bei der Exekution von Partisanen zugesehen. „Ich wollte dabei sein, ich wollte wissen, was da passiert“, sagt er. Er ließ sich vom Oberfeldwebel genau erklären, wo man einen Genickschuss ansetzt, damit die Kugel aus der Stirn wieder austritt. „Auch die Grausamkeit muss man im Detail wissen. Sonst kann man sie nicht erzählen“, sagt er.
Weil er von der Schriftstellerei allein nicht leben konnte, arbeitete Lorenzen auch journalistisch. Als „Boulevardier“ flaniert er in den 60er-Jahren für die Zeitung Der Abend durch die Stadt, er verfasst Feuilletons und Reportagen. Teils berichtend, teils satirisch überzeichnend entdeckt er für seine Leser das „Paradies zwischen den Fronten“, wie er Berlin nennt. Er verkehrt in der Kreuzberger Galerie zinke von Günter Bruno Fuchs und Wolfgang Schnell, später im „Zwiebelfisch“ am Savignyplatz in Charlottenburg, Treffpunkt erst der 68er, dann der Alt-68er. Er kennt Schauspieler und Maler, hält sich und seine Arbeit aber immer auch ein bisschen abseits. „Ich bin ein Einzelgänger. Ich schreibe meine eigenen Sachen, für mich allein. So wie ich auch mein eigenes Leben für mich alleine gelebt habe.“ Seine Frau sagt nichts dazu.
Es ist also kein Zufall, dass Lorenzen direkt hinter dem Wittenbergplatz wohnt, im alten Westberliner Zentrum. Er ist Stadtmensch, gerne mittendrin. Auf dem Land könne er nicht leben, sagt er. „Ich hab mal eine Zeit an der Heerstraße gewohnt. Das war schon viel zu viel Natur für mich.“
Nach dem Mauerfall verschob sich das Berliner Zentrum nach Osten. Lorenzen konnte mit dieser Entwicklung nicht viel anfangen. „Die Wende interessierte die Ostdeutschen mehr als uns. Wir hatten ja alles, was wir brauchten“, sagt er. Er hat Ostberlin besichtigt, aber seine Welt ist nach wie vor Charlottenburg. „Der Kurfürstendamm war immer unser Zentrum. Pankow nicht“, sagt er. „Mitte meinst du natürlich“, korrigiert ihn seine Frau.
Auch wegen des Schlaganfalls lebt Lorenzen heute vor allem in seiner Wohnung, in seinen Gedanken, in seinen Büchern. Er hat viel zu tun: Der kleine, ambitionierte Berliner Verbrecher Verlag plant eine Werkschau, dafür muss Lorenzen alles noch mal durchsehen. Die neuen Romane darf er dabei nicht vernachlässigen.
Ein „Glücksmoment“ sei es gewesen, als er den Verlag gefunden habe, erzählt er. Im Rückblick mag er sein Leben auf folgerichtige Zusammenhänge reduzieren. In diesem Augenblick aber steht ihm die Hoffnung im Gesicht geschrieben. Er richtet sich auf, seine Augen strahlen. „Der Verlag arbeitet alles noch mal auf. Sehen Sie, den Durchbruch, den gibt es jetzt.“