: Der Hannoveraner liebste Wipfel
EILENRIEDE Vom Holzlieferanten zum Naherholungsgebiet: Europas größter Stadtwald gehört seit dem 14. Jahrhundert den Bürgern
Wer die 184 Stufen des hölzernen Wald-Hochhauses hinaufgestiegen ist, wird mit einem Blick belohnt, der vergessen lässt, dass man sich mitten in einer Großstadt befindet: 640 Hektar Wald umfasst die Eilenriede, so viel wie stolze 900 Fußballfelder. Oder, anders gesagt: Hannovers Stadtwald ist fast doppelt so groß wie der Central Park in New York. Von hier oben, knapp über den Baumwipfeln, sieht die unendliche Waldfläche noch fast genauso aus wie im Mittelalter – als die Herzöge Wenzeslaus und Albrecht von Sachsen das Waldgebiet im Jahr 1371 den Hannoveranern schenkten.
Die Übertragung des Waldes war ein riesiges Dankeschön für die hannoversche Unterstützung im Lüneburger Erbfolgekrieg (1370–1388). Dessen Hinterlassenschaften sind noch heute in der Eilenriede zu finden: Gräben und Wallreste, Überbleibsel der einstigen Landwehr, durchziehen das Gebiet. Was einst eine militärische Befestigungsanlage war, ist heute Teil der Idylle im nach wie vor liebsten Waldstück der Hannoveraner.
Ansonsten haben sich deren Bedürfnisse seit dem Mittelalter ziemlich verändert: War der Wald im 14. Jahrhundert vor allem ein perfekter Holz-Lieferant und Weidegebiet für Vieh, entstand die Idee vom Erholungsort erst sehr viel später. Noch Anfang des 17. Jahrhunderts trieb ein Räuber namens Hanebuth – ein Söldner des Dreißigjährigen Krieges, der 1653 durch Rädern hingerichtet wurde – sein Unwesen in dem undurchdringlichen Dickicht mit seinen zahlreichen möglichen Verstecken.
Um 1900 setzte die Stadtgartendirektion von Hannover auf eine Umgestaltung der vorderen Eilenriede im Stile eines Landschaftsgartens – zurzeit der Industrialisierung lebten viele Einwohner in einer Umgebung, die der Gesundheit nicht eben förderlich war. Um diese Zeit entstand hier auch einer der ersten Radwege überhaupt. Mit kleinen Wasserläufen und Lichtungen, Skulpturen und dem ersten Kinderspielplatz der Stadt erhielt die Eilenriede eine Struktur, die sich hier bis heute vorfinden lässt. Das Konzept des Naherholungsgebietes für alle Bürger war geboren. Und es setzte die Nutzung der Eilenriede als Ort der Entspannung fort, die parallel mit der Gründung des Hannoveraner Zoos im Norden des Waldgebiets 1865 begonnen hatte.
Die Grenzen zwischen Zoo und Stadtwald sind bis heute fließend: Wer die Flussfahrt durch die Serengeti und die Wolfsrudel in der Yukon Bay heil überstanden hat, kann sich direkt aufmachen in eine echte, etwas weniger wilde Tierwelt, in der unter anderem Rehe, Füchse, Hasen, Marder und Fledermäuse zu Hause sind. Und wo auch der Stadt-Mensch zu seinen Ursprüngen zurückfindet, sei es beim Joggen über das 80 Kilometer lange Wegenetz oder beim offenen Feuer an einem Grillplatz. ALEXANDER KOHLMANN