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Archiv-Artikel

herr tietz macht einen weiten einwurf Foppende Affordanz

Vom Rollttreppenhinauflaufen, dem Empire-State-Building-Run-up und den 768 Stufen des Ulmer Münsters

Das war mir neu: dass die alte, sowieso kaum noch irgendwo funktionierende Rechts-stehen-links-gehen-Regel auf Rolltreppen wegen erhöhter Unfallgefahr und einseitiger Belastung als offiziell abgeschafft gilt – zumindest in München. So stand es neulich in einer kleinen Rolltreppenkunde in der Süddeutschen Zeitung. Dank der ich jetzt übrigens auch weiß, was eine floppende Affordanz ist. Jener Frust zum Beispiel, welcher sich einstellt, wenn man auf eine Rolltreppe zugeht und erwartet, von ihr transportiert zu werden, um dann aber feststellen zu müssen, dass die Rolltreppe außer Betrieb ist und man die verdammten Stufen zu Fuß nehmen muss. Affordanz. Gut zu wissen.

Für den Extremsportler Stefan Schlett dürfte die Affordanz einer Rolltreppe etwas anderer Natur sein als für uns Rolltreppennormalbenutzer. Der 41-Jährige ist nämlich amtierender Weltrekordhalter im Rolltreppenhochlaufen. Bei seinem Rekordlauf schaffte Schlett 21.403 Stufen in etwas mehr als fünf Stunden. Fünftausend Höhenmeter hat er dabei überwunden. Leider ist es mir bis Redaktionsschluss nicht gelungen, Genaueres über die Wettkampfbedingungen im Rolltreppenrekordlauf in Erfahrung zu bringen. Etwa, in welchem Betriebsmodus sich die Rolltreppe befinden muss: Stillstand, abwärts oder aufwärts? Sind sonst noch Leute auf der Rolltreppe, die, bepackt mit Koffern oder Einkaufstüten oder gar Kinderwagen oder Fahrrädern, einige dieser rolltreppentypischen Hindernisse bilden? Und wo genau existiert eigentlich diese weltrekordtaugliche Fahrtreppe, mit der man sich auf 5.000 Meter transportieren lassen kann, sofern man die Affordanz ihrer 21.403 Stufen nicht eher darin sieht, diese hinaufzurennen?

Zu einer ganz anderen Affordanz: der des Empire State Buildings nämlich, welche zumindest für uns New-York-Touristen im Wesentlichen die sein dürfte, dessen Aussichtsplattform zu besuchen. Wohl kaum einer, der auf die Idee käme, diese mit der Rolltreppe zu erreichen (zumal es eine solche im Empire State Building auch gar nicht gibt), geschweige denn über dessen Treppenhaus. Selbstverständlich benützte man einen seiner 73 Aufzüge. Nicht so Thomas Dold. Der 21-jährige Stuttgarter pflegt die Treppe zu nehmen. So gerade erst wieder am vorletzten Dienstag, als Dold im Rahmen des „Empire State Building Run-up“ die 1.576 Stufen hinauf in den 86. Stock hastete. Er brauchte dafür 10 Minuten und 25 Sekunden und war damit, wie schon im Vorjahr, abermals der Schnellste des seit 29 Jahren ausgetragenen Treppenlaufs.

Eine umso beachtlichere Leistung, wenn man bedenkt, wie’s bei diesem Run-up abgeht. Die über hundert männlichen Teilnehmer starten vor dem Wolkenkratzer im Rudel. Nach zwanzig Metern bereits muss das Feld durch eine, wie Dold sie beschreibt, „handelsübliche Tür“ drängen, hinter der die Holztreppe hinauf zur Plattform beginnt. Gerade mal einen Meter breit sind deren Stufen und bieten somit kaum eine Möglichkeit zu überholen, weswegen jeder Läufer unter Einsatz aller zur Verfügung stehenden Haken und Knüffe versucht, als einer der Ersten die Treppe zu erreichen. Nur so hat man überhaupt eine Siegchance. Damit nicht genug, müssen irgendwann unterwegs auch noch die fünf Minuten früher startenden Damen überholt werden. Auch das gelingt in der Enge des Treppenhauses oft nur mit kraftraubendem Drängeln und Schubsen, weil auch die Damen ungern Platz machen oder die von hinten Heranhechelnden schlichtweg nicht bemerken.

Welche irrsinnige Anstrengung so ein Treppenlauf erfordert, weiß ich spätestens nach der eher gemächlich angegangen Turmbesteigung des Ulmer Münsters, zu der ich mich neulich leichtfertigerweise hinreißen ließ. 768 Stufen waren da über eine, in einer engen, drehwurmfördernden Spirale sich hinaufwindenden Steintreppe zu bewältigen. Ich aber bekam bereits nach dem erste Drittel kaum noch Luft und, begünstigt wohl durch den Drehwurm, die Vision eines Treppenliftes. Bevor nicht ein solcher in den Ulmer Turm eingebaut ist, werde ich jedenfalls seine Affordanz nicht mehr darin sehen, den allerdings herrlichen Ausblick von seiner Spitze aus zu genießen.