Rekonstruktion des Labyrinths

Vom Verlieren und Sichwiederfinden: Sasha Waltz ist mit „insideout“, einer Recherche zum Motiv der Migration in den Biografien ihrer Tänzer, in das Radialsystem gezogen

Die Bühne ist ein Labyrinth, verschachtelt, verwinkelt, mit Vorhängen und verschiebbaren Wänden, die Blicke öffnen und verschließen. Über zwei Etagen zieht sich das Konglomerat aus Kuben, Kammern und Pavillons, aus Glas, Holz und Stahl. Es ist ein Raumsystem, in dem man sich verlieren und wiederfinden soll, entworfen von der Choreografin Sasha Waltz mit ihrem Bühnenbildner Thomas Schenk für das Stück „insideout“, das 2003 an der Schaubühne Premiere hatte. Sie erhielten dafür damals den Opus-Preis für das beste Bühnenbild des Jahres.

Jetzt ist die Installation ins Radialsystem gezogen, in das neu gegründete Haus für Tanz und Musik an der Spree. Die letzten Aufführungen liegen anderthalb Jahre zurück. Zehn Tage lang wurde am Bühnenbild gebaut, nur drei Tage lang war vor der Wiederaufnahme Zeit für die Rekonstruktion der verwirrenden Wege durch das Labyrinth: Am Ende des ersten Tages wird die Verhörszene geprobt. Mindestens sieben oder acht der 20 Tänzer halten plötzlich Megafone in der Hand und schießen Fragen wie spitze Pfeile ab: Wo kommen Sie her? Sind Sie verheiratet? Haben Sie eine Kreditkarte? Sind Sie versichert? Warum rennen Sie davon? Es ist eine dramatische Szene, die überall in den Ecken und Winkeln zu Eskalationen führt, zu Übergriffen und Angst. Wände schließen sich, teilen die Akteure in Ein- und Ausgeschlossene. Manche der Verfolgten werden selbst zu Verfolgern, einer steht unvermutet oben auf einer Wand der Installation, wie ein ausgebrochener Gefangener. Der Thrill einer Actionszene liegt in der Luft, selbst an diesem Probentag, an dem vieles nur markiert wird, das Springen gegen die Mauern und das Fallen zum Beispiel.

Im Foyer wird eine Karte aufgebaut, die ein weltweit gesponnenes Verbindungsnetz zeigt. Sie nimmt das Konzept des Stücks auf, das auf einer Recherche zum Motiv der Migration in den Biografien der Tänzer beruht. Die Mitglieder des Ensembles kommen aus Australien, Neuseeland, Israel, Japan, Kanada, Korea, Spanien und anderen Ländern. Für sie ist der Wechsel des Landes oft selbstverständlicher Teil ihrer professionellen Biografie, unter den Migranten gehören die Künstler zu den Privilegierten; sie sind, so kompliziert sich das oft auch lebt, in der Verflüssigung ihrer Identität zu Hause. In den Geschichten ihrer Familien aber war das oft noch anders.

Laurie Young zum Beispiel. Sie ist chinesische Kanadierin der zweiten Generation, lebt seit zehn Jahren in Berlin und knüpft ihre Geschichte an ein altes chinesisches Etuikleid ihrer Mutter an: Alle Stereotypen über das Asiatisch- oder Fremdsein zieht sie mit ihm an und aus. Mit diesem Kleid verändert sich, wie sie wahrgenommen wird. Die Frage, wie viel von der eigenen Person man in ein Stück hineingeben kann und wo die Eigenwahrnehmung und der Blick von außen divergieren, hat sie in „insideout“ erstmals bearbeitet und seitdem in eigenen Projekten weiterverfolgt.

„insideout“ ist ein zugleich intimes und anonymes Stück. Obwohl in ihm mehr als in jeder anderen Arbeit von Sasha Waltz die persönlichen Geschichten der Tänzer die Grundlage bildeten, hört man als Zuschauer weniger auf einzelne Stimmen denn auf die Gesamtkomposition. Sie ist verwirrend, weil man stets nur Bruchstücke sieht. Denn sich in der Installation zu verlieren und wiederzufinden, das machen nicht nur die Tänzer, dazu ist auch das Publikum aufgefordert. Und es ist aufregend, von dieser Energie mitgerissen zu werden.

Schon an der Schaubühne hätte Sasha Waltz das Stück gerne öfters gespielt, allein der komplizierte Bühnenaufbau ließ dies nicht zu. Es ist jetzt eines jener Stücke, die sie mit in das Radialsystem nehmen konnte, während im Repertoire der Schaubühne, mit 25 Vorstellungen im Jahr, die „Körpertrilogie“ und ihr letztes Stück „Gezeiten“ bleiben. Und „insideout“ ist in seiner Verabschiedung der klassischen Trennung von Bühne und Publikum programmatisch für das, was im Radialsystem gesucht wird: ein Ausprobieren von Formaten, die den Zuschauer involvieren wollen.

KATRIN BETTINA MÜLLER

„insideout“, 25., 26. & 29. 11., 1.–3. 12. im Radialsystem, Holzmarktstr. 33