Tiefe Wunden

Eine Studie dokumentiert schwere Erkrankungen ehemaliger DDR-Sportler. Die Opfer des Staatsdopings könnten schon bald entschädigt werden

aus berlin andreas rüttenauer

„Dopingmittel, dass es sich darum gehandelt hat, das habe ich erst nach der Wende erfahren, in den 90er-Jahren, wo dann eine Reporterin zu mir gekommen ist und mir verschiedene Sachen erklärt hat, wo ich erst mal ins große Staunen gekommen bin.“ Dieser Satz eines ehemaligen Gewichthebers, der zu DDR-Zeiten als Leistungssportler erfolgreich war, findet sich in der Studie „Wunden und Verwundungen“, in der die Dopingschäden von DDR-Sportlern untersucht worden sind. Es ist ein typischer Satz. 52 Interviews hat Birgit Boese, selbst dopinggeschädigte Ex-Leichtathletin, geführt. Immer wieder ist sie auf Menschen gestoßen, die lange gebraucht haben, um zu realisieren, dass sie als Teil des DDR-Sports in ein durchstrukturiertes System der Leistungsmanipulation eingebunden waren. Zum Großteil sagen sie, dass sie nicht wussten, dass es sich bei den Pillen, die man sie schlucken ließ, um Anabolika handelte. Jetzt haben sie ein schlechtes Gewissen, sind von Selbstzweifeln geplagt, fragen sich, warum sie nichts geahnt und den Versicherungen ihrer Betreuer immer geglaubt haben. Sie haben die Achtung vor ihren eigenen sportlichen Erfolgen verloren. Die Erinnerung an ihre Jugend, die sie zum Großteil in Sportinternaten verbracht haben, ist alles andere als ungetrübt. Und sie sind krank.

In den Interviews für die vom Sportwissenschaftler Giselher Spitzer für die Berliner Humboldt-Universität betreute Studie haben sich die ehemaligen Sportler offen über ihre Leiden ausgelassen, auch weil ihnen zugesichert wurde, dass die Fälle anonymisiert werden. Vor allem Sportlerinnen, die wegen ihres männlichen Erscheinungsbildes ihre positive weibliche Identität verloren haben, stellen sich nur ungern der Öffentlichkeit. Sie behalten ihren Selbsthass für sich. Den tragen 20 von 52 Befragten in sich. So viele ehemalige Sportler befinden sich in der Gefahr, „sich selbst zu schädigen, bis hin zum Selbstmord“, wie es im Untersuchungsbericht heißt.

Die Stichprobe sei zwar, so Spitzer, zu klein, um verallgemeinernde Thesen zuzulassen. Dennoch gebe es eindeutige Tendenzen, die den Schluss nahe legen, dass bestimmte Erkrankungen und körperliche Mangelerscheinungen auf das Doping zurückzuführen seien. Zum wiederholten Mal regte er eine epidemiologische Studie in Zusammenarbeit von Sportwissenschaftlern und -medizinern an, die den endgültigen Nachweis erbringen soll, dass bestimmte Krankheitsbilder bei Dopingopfern häufiger vorkommen als bei der Normalbevölkerung der DDR.

Doch auch die am Mittwoch vorgestellte Dokumentation ist in dieser Hinsicht recht eindeutig. 38 Prozent der Befragten sind psychisch labil, 93 Prozent klagen über Skeletterkrankungen, ein Viertel der Ex-Sportler leidet unter Essstörungen, die Hälfte der befragten Frauen an gynäkologischen Erkrankungen. „Hätte es eine derartige Studie schon früher gegeben“, so Spitzer am Mittwoch, „die Diskussionen um die Entschädigung von Dopingopfern wäre anders verlaufen.“

Dass eine Einigung des Deutschen Olympischen Sportbundes (DOSB) mit Dopingopfern um Entschädigungszahlungen nach Jahren zähen Ringens nun doch noch zustande zu kommen scheint, wusste er da noch nicht. Der Impuls dazu ging wohl vom Innenministerium aus. In „Gesprächen auf höchster Ebene“, so DOSB-Sprecher Michael Schirp, habe der Bund zugesichert, Gelder zur Verfügung zu stellen, wenn es zwischen dem Sportbund und den Opfern zu einer außergerichtlichen Einigung komme. Dafür ist im Haushaltsplan für das Jahr 2007 ein Posten vorgesehen. Wie hoch er sein wird, muss jetzt noch verhandelt werden.

Seit Jahren schon klagen Ex-Sportler auf Schadensersatz gegen das mittlerweile im DOSB aufgegangene Nationale Olympische Komitee (NOK) – als Nachfolgeorganisation des DDR-NOK. Der Heidelberger Anwalt Michael Lehner, der 152 betroffene Sportler vertritt, war bei den Verhandlungen dabei, über die die Beteiligten Stillschweigen vereinbart haben. Er wollte der taz nur so viel sagen: „Es war sicherlich ein glücklicher Zeitpunkt, dass die Verhandlungen jetzt zustande kommen.“ Er ist sich, ebenso wie DOSB-Generaldirektor Michael Vesper, sicher, dass es noch in diesem Jahr zu einer Einigung kommen wird. Mehr als eine „überfällige Geste“ (Schirp) wird die Einmalzahlung für die Sportler allerdings nicht darstellen. Dennoch darf es als Erfolg gewertet werden, wenn Opfer des DDR-Dopingsystems Entschädigungen erhalten, ohne in juristischen Auseinandersetzungen Details ihrer Krankheitsgeschichte coram publico vortragen zu müssen. Eine derartige außergerichtliche Regelung könnte auch dazu beitragen, dass sich ehemalige DDR-Athleten, die bislang noch nicht als Dopingopfer geführt werden, ihrer Biografie stellen.