ANDREAS FANIZADEH LEUCHTEN DER MENSCHHEIT : Der Kohl in Dir
Seit Wochen führt Walter Kohls „Leben oder gelebt werden. Schritte auf dem Weg zur Versöhnung“ (Integral Verlag, 2011) die Sachbuch-Bestsellerlisten an. Es ist der literarische Befreiungsschlag des älteren Sohn von Alt-Bundeskanzler Helmut Kohl. Walter Kohl deckt darin auf, was es für ihn hiess, „gelebt zu werden“, statt selber ein eigenes Leben zu haben.
Das Buch ist bemerkenswert. Walter, „der Sohn vom Kohl“, macht deutlich, warum es pädagogisch falsch ist, als ganz normales Kind behandelt zu werden, so man doch keines ist. Walters früher Kinderfreund heisst Igo und ist „ein deutscher Langhaarschäferhund“, ein Polizeihund, der zu seiner Sicherheit abgestellt wurde. Ohne Igo muss „der Sohn vom Kohl“ allerdings auf eine ganz normale Schule in Luwigshafen-Gartenstadt in den 70er-Jahren. Gute Absicht, falscher Ansatz: Walter berichtet, wie er gleich am ersten Tag Prügel bezog.
Die Kinder des CDU-Vorsitzenden sollten ganz normal aufwachsen, in einer Zeit, in der die traditionelle Rollenaufteilung von Vater, Mutter, Kind aber bald selbst kaum mehr als normal gelten konnte. Walter beschreibt den familiären Tribut für den väterlichen Aufstieg. Kinder und Mutter Hannelore blieben bewacht allein zu Hause, der Vater ein seltener Gast. Wenn er mal da war, so Walter, „vergrub er sich nach den Mahlzeiten meist in seinem kleinen Arbeitszimmer.“ Das dürfte vielen bekannt vorkommen.
Walter Kohls Buch ist ein Dokument des Scheiterns der konservativ (klein-)bürgerlichen Familie. Er sieht sich als Opfer, eine Rolle aus der er durch die Veröffentlichung und nach dem Selbsmord seiner Mutter Hannelore (2001) heraustreten will. Sein Vater schweigt.
■ Andreas Fanizadeh leitet das Kulturressort der taz. Foto: privat