: Ist die Zeit der Diktatoren vorbei?JA
WANDEL Die autoritären Regime in der arabischen Welt bröckeln oder sind zusammengebrochen. Dennoch existieren weltweit noch mehr als zwanzig Diktaturen
Die sonntaz-Frage wird vorab online gestellt. Immer am Dienstagmittag. Wir wählen eine interessante Antwort aus und drucken sie dann in der sonntaz. www.taz.de/sonntazstreit
Márton Gergely, 34, ungarischer Journalist und Autor, wohnt in Budapest
Ich hoffe, die Zeit der Diktatoren ist abgelaufen. Als 13-Jähriger war ich wie elektrisiert von der plötzlichen Freiheit, die die Wende über Osteuropa gebracht hat. Meine Sympathien sind daher mit all den jungen Menschen, die momentan Mitbestimmung fordern, die glauben, dass Freiheit mehr bieten kann als die trügerische Stabilität eines Husni Mubarak oder János Kádár. 20 Jahre sind vergangen, seit ich als Schuljunge auf dem Budapester Platz der Helden den jungen Viktor Orbán bestaunte, als er bei der feierlichen Umbettung der hingerichteten Helden der Revolution von 1956 die sowjetischen Truppen aufforderte, das Land sofort zu verlassen. Eben dieser Orbán schickt sich nun an, unseren Traum zu zerstören. Er lässt mit seiner Zweidrittelmehrheit eine neue Verfassung durchs Parlament peitschen, er lässt die nachhaltige Zensur einführen, er lässt Parteifreunde auch ohne Qualifikation in jede Position bringen. Ist er der nächste Diktator? Soweit sind wir noch nicht. Er fürchtet die Macht der Massen. Er ist ein Demokrat, sozialisiert im Kommunismus, der die Demokratie vergewaltigt, damit er – wie 2002 – nicht noch einmal abgewählt wird. Das muss auch für die freiheitshungrigen Araber eine Lehre sein. Wir müssen für unseren Traum auch nach 20 Jahren noch lämpfen.
Lothar Brock, 72, Politikwissenschaftler an der Uni Frankfurt am Main
Bei der Durchsetzung der Mission, die sie sich selbst zuschreiben, begehen Diktatoren systematisch Verbrechen an der eigenen Zivilbevölkerung. Das unterscheidet sie von autoritären Herrschern. Solche Verbrechen werden heute nicht mehr hingenommen, sie sind seit der Einrichtung des Internationalen Strafgerichtshofes im Jahre 2002 als „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ strafbar. Natürlich bedeutet die Weiterentwicklung des Rechts kein Ende von Straftaten. Aber sie bedeutet ein Ende der Möglichkeit, willkürliche Gewalt als Wahrnehmung öffentlicher Anliegen zu rechtfertigen. Diktatoren geraten also zunehmend unter Druck: von außen durch die Verschiebung der internationalen Standards angemessenen Verhaltens, von innen dadurch, dass diese Standards sich aufgrund der modernen Kommunikationsmöglichkeiten in Widerstand übersetzen. Die Aussichten von Diktatoren auf einen geruhsamen Lebensabend am Genfer See im Kreise ihrer Milliarden verdüstern sich zunehmend.
Kevin Culina, 19, Abiturient, hat die sonntaz-Frage auf taz.de kommentiert
Diktatoren sind dann am Ende, wenn die politikwissenschaftlich nachgewiesene anfängliche Instabilität demokratischer Staaten überwunden wird und totalitäre Regime damit keine Plattform mehr erhalten. Wir benötigen mehr multi- und bilaterale Zusammenarbeit statt profitorientierter Ausbeutung und Unterstützung von Diktatoren, siehe Libyen. Im Hinblick auf die sogenannten „buttom-up“-Revolutionen in Nordafrika kann man große Fortschritte in der Demokratisierung der Welt sehen. Deshalb sollten die Menschen verstärkt in die Entwicklungszusammenarbeit eingebunden werden, um demokratische Prinzipien in der Bevölkerung zu integrieren und durchzusetzen. Das kann beispielsweise durch „Good Governance“ geschehen. Menschenrechte haben weltweit ihre Gültigkeit und ein Leben in Freiheit und Demokratie muss überall ermöglicht und geschützt werden.
NEIN
Francesca Weil, 48, Totalitarismusforscherin am Dresdner Hannah-Arendt-Institut
Die Veränderungen in der arabischen Welt sollten nicht darüber hinwegtäuschen, dass auf der Welt zahlreiche andere Diktatoren herrschen, deren Macht und Einfluss gegenwärtig nicht unmittelbar zur Disposition stehen. Und auch die Gefahr der Entstehung neuer Diktaturen ist nach wie vor nicht ausgeschlossen. Denn der Bestand von Demokratie ist mittelfristig nicht sicher, solange begründete Verunsicherungen, Ängste wie Zweifel von Teilen der Bevölkerung in demokratisch verfassten Ländern die Sehnsucht nach einem „starken Staat“ und einer damit verbundenen charismatischen Führung wecken, solange Politik(er)verdrossenheit Resignation und Desinteresse an gesellschaftlichem Engagement erzeugt, solange Bürger ihr Recht auf Mitbestimmung bei politischen Entscheidungen nicht ausreichend verwirklicht sehen, solange zivilgesellschaftliches Engagement nicht angemessen respektiert wird und an Einfluss gewinnen kann.
Flores D‘Arcais, 66, italienischer Philosoph, gibt das Magazin MicroMega heraus
Die Niederlage eines Tyrannen fällt – leider – nicht unbedingt mit dem Sieg der Demokratie zusammen. In Ägypten haben die Militärs die Macht übernommen, in Tunesien ist die Situation unklar. In Libyen ist der Tyrann zur Gegenoffensive übergegangen. Europa hätte seit Jahren schon eine aktive Rolle zugunsten der Demokratie in Nordafrika einnehmen können und müssen. Stattdessen hat es den Servilismus gegenüber den Tyrannen vorgezogen, weil „Geld nicht stinkt“. Und womöglich auch, weil die europäischen politischen Kräfte in immer geringerem Maße auch im eigenen Land die Demokratie als Verpflichtung betrachten. Silvio Berlusconi ist hier der spektakulärste Fall. Er ist ein erklärter und schamloser Feind der Demokratie. Er versucht, radikal jedwede Autonomie der Medien und jegliche Unabhängigkeit der Justiz zu zerstören. Europa hat dabei tatenlos zugeschaut und die europäische Rechte (vorneweg Angela Merkel) hat ihn als Protagonisten der Europäischen Volkspartei in Straßburg legitimiert. Nicolas Sarkozy versucht seinerseits, ihn zu imitieren und öffnet so den Weg für wachsende Zustimmung zu Le Pen. Der Schlaf der Demokraten gebiert Monster.
Sonja Margolina, 60, geboren in Moskau, lebt als freie Autorin in Berlin
Wer glaubt, Revolutionen schaffen Diktaturen ab und bringen Demokratien hervor, hat die Französische Revolution vergessen. Oft bringt eine Revolution eine Diktatur erst hervor. Im 20. Jahrhundert waren die Sowjetunion und China Paradebeispiele für diese Entwicklung. Auch die Erfahrung der postsowjetischen Länder wie Russland, der Ukraine, von Mittelasien ganz zu schweigen, zeigt, dass der Sturz eines Diktators allein keine stabile Demokratie hervorbringen kann. Denn der Diktator ist lediglich eine Personifizierung der Korporationen, die das Land kontrollieren und schröpfen: Geheimdienste, Armee, Oligarchen. Paradox: Der Sturz der Diktatoren in Arabien scheint Diktaturen in anderen Erdteilen zu stärken. In Russland tragen die gewachsenen Einnahmen aus dem Ölexport zur Stärkung des Putinschen Regimes bei. China mit seinen imperialen Ansprüchen ist der eigentliche Gewinner der arabischen Kalamitäten. Global läuft es fast nach dem Motto: Nieder mit dem Diktator, es lebe die Diktatur!