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: „Zoli“ von Colum McCann: postkolonialistischer Kitsch aus dem Zigeunerleben

Erfolgreiche Romane, heißt es, gehen aus den typischen Tagträumen von Kindern hervor. Im Freien übernachten! Im Zelt, im Baumhaus, im Wald, in den Höhlen. Und dann nie, nie nach Hause zurück, sondern immer weiter in die Welt hinaus, und Mama und Papa werden schon sehen, was sie davon haben, dass sie immer „lass das!“ sagten. In der Kunstgeschichte darf dieser Tagtraum an die Geschichten vom fahrenden Volk andocken, „Isabella von Ägypten“ (Achim von Arnim), „Der Zigeunerbaron“ (Johann Strauß), „Die Zigeuner vom grünen Wagen“ (Thomas Mann). Lange konnte der Kleinbürger als Wandschmuck das Bild eines schwarzhaarigen Mädchens mit glutenden Augen und saftigem Dekolletee erwerben, leidenschaftlich dem Tanz hingegeben, der ihresgleichen im Blut liegt.

Versteht sich, dass nach Hitler dieser Tagtraum vom Übernachten im Freien, vom fahrenden Volk im grünen Wagen, das immer mal wieder stiehlt, lügt und betrügt – wie soll man sonst, denkt das Kind, ohne Papa und Mama durch die Welt kommen? – nicht ungehemmt weiterverfolgt werden konnte. Massenmord schließt positiven Kitsch aus. Jetzt hat Colum McCann, Ire, in New York lebend, eine interessante Möglichkeit aufgetan, den Zigeunertopos, das Übernachten im Wald, mithilfe von Dekonstruktivismus und Postkolonialismus zu erneuern. Zugleich den Kitsch.

Als kleines Mädchen muss Zoli zuschauen, wie slowakische Faschisten ihre Großfamilie in einem Teich ertränken. Großvater nimmt sich ihrer an und zieht mit ihr weiter, auf jenen verborgenen Pfaden, die nur seinesgleichen kennt, sogar in dicht besiedelten Gebieten und zu Zeiten der Tyrannis. Vor allem aber lehrt Großvater Zoli Lesen und Schreiben, ganz ungewöhnlich für ein Romamädchen, so dass Zoli die überirdischen Gesänge ihres Volkes fixieren kann und selbst Gedichte zu schreiben beginnt.

Kommt ein junger Engländer (mit slowakischen Wurzeln), dem Colum McCann den Namen Swann gibt, schweres Seufzen des Lesers. Swann will helfen, den Sozialismus in der Tschechoslowakei aufzubauen. Dazu soll gehören, dass die Zigeuner/Roma frei, unter staatlichem Schutz statt staatlicher Repression ihrer Lebensweise draußen nachgehen können. Swann zeichnet Zolis Gesänge mit dem Tonband auf; ihre Gedichte werden gedruckt, worüber der einheimische Dichter Stránský eifersüchtig wacht. Der neue Mensch, den der Sozialismus hervorbringt, soll den Anderen umfassen, l’autre, in der Gestalt des Zigeuners, der so bleibt, wie er ist, samt aller Gesänge.

Geht natürlich schief. Die Roma werden in Neubausiedlungen kaserniert. Und sie stoßen Zoli aus, weil das Aufschreiben, die technische Reproduktion ihrer Gesänge und Gedichte Verrat am authentischen Zigeunertum waren. Dass der Leser die mitgeteilten Poesien durchschnittlich findet, erklärt sich von selbst: Er ist ja kein Rom, seine Seele ist tot. Und wenn das zu wenig ist als Erklärung: Die Schrift tötet den Gesang.

Zoli verlässt Swann und flieht auf jenen verborgenen Pfaden, die nur ihresgleichen in Mitteleuropa kennt, nach Südtirol. Dort lebt sie mit Enrico, hart, aber zart, Schmuggler und zugleich aus dem allerfeinsten Veroneser Geschlecht, man sieht den edlen Räuber als Gemälde in Essig und Öl vor dem inneren Auge. Zoli hat mit Enrico eine Tochter, die sie Jahrzehnte später in Paris besucht. Francesca organisiert den Multikultikongress, wo der graue, gebrochene Swann aus der Ferne noch einmal Zoli erblicken und sie ihn erneut verstoßen darf, um die Oberhoheit zu übernehmen und jene nichtidentischen Gesänge anzustimmen, die in einem geschriebenen und gedruckten Roman keine Präsenz erlangen können und deshalb alle Zuhörer bezaubern. Ja, nicht wahr, das hatten wir noch nicht, Dekonstruktivismus und Postkolonialismus als Kitsch.

MICHAEL RUTSCHKY

Colum McCann: „Zoli“. Aus dem Englischen von Dirk van Gunsteren. Rowohlt, Reinbek 2007, 383 Seiten, 19,80 Euro