: Die Szene ist kein Zoo
TOURISMUS Berlin ist hip und zieht viele Besucher an. Wird so die Kiezkultur zerstört?
VON HANNAH SPRUTE, MAX BIEDERBECK UND PAOLO-FRANCESCO CERCOLA
Es ist ein sonniger Samstagnachmittag am Kottbusser Tor mitten in Kreuzberg. Der Platz ist bekannt für Drogenhandel und Kriminalität. Vor einem Dönerimbiss hat sich eine kleine Touristengruppe um Tourguide Alex versammelt. Die jungen Leute aus England, den USA und Spanien wollen das andere Berlin kennen lernen, jenseits von Reichstag und Checkpoint Charlie. „Früher wollte niemand hierher, aber das Viertel hat enorm viel zu bieten“, schwört Alex seine Gruppe auf Englisch ein. Er verspricht drei Stunden Graffiti-Szene, „Left-Wing-Culture“ und den Blick über den Tellerrand des gewöhnlichen Sightseeings.
Betreiber von Clubs und Kneipen in Szenebezirken wie Prenzlauer Berg oder Neukölln freuen sich über den zusätzlichen Profit. Viele Anwohner sehen die Vermarktung ihres Wohnorts aber durchaus kritisch. Sie haben Angst, „dass aus ihrem ursprünglichen Viertel lediglich ein oberflächliches Abziehbild wird“, sagt die Stadtplanerin Verena Pfeiffer.
Die Grünen in Friedrichshain-Kreuzberg organisierten deshalb eine Veranstaltung mit dem Titel „Hilfe, die Touris kommen!“ Die Befürchtung: Das gezielte Herankarren von großen Touristengruppen verdrängt und zerstört die Kiezkultur. Darüber hinaus steigen die Miet- und Gastronomiepreise durch die zunehmende Anzahl von Ferienwohnungen.
Diese Entwicklung macht auch vor Kunstzentren wie dem Tacheles in der Oranienburger Straße nicht halt. Der Dinosaurier der Underground-Kunstszene wurde in den letzten Jahren immer mehr zum Publikumsmagneten. Kann etwas, das in fast jedem Reiseführer steht, noch authentisch sein? Autor und Illustrator Roman Kroke hat seit über zwei Jahren ein Atelier im Tacheles und verteidigt die zunehmende Öffnung für den Szene-Tourismus. „Es wird erst dann schwierig, wenn nicht mehr die Kunst, sondern der Gewinn im Vordergrund steht“, sagt er. Der Austausch mit den Touristen schaffe neue Möglichkeiten. Kroke selbst konnte dank eines interessierten Besuchers zum Beispiel an einem internationalen Filmprojekt mitarbeiten.
Tourguide Alex ist jedenfalls sicher: „Die Beziehung zwischen Touristen und Berlinern kann für beide Seiten ein Gewinn sein.“ Das Problem besteht darin, dass sich große Reiseunternehmen nicht an die Spielregeln halten. Für Alex ist etwa wichtig, „sich nicht wie in einem Zoo aufzuführen“. Besucher müssten begreifen, dass der Kiez Alltag ist und kein Showroom. Die wiederum haben die Möglichkeit, eine Szene nicht nur oberflächlich, sondern wahrheitsgetreu kennen zu lernen. „Wir haben gestern eine normale Stadttour gemacht, die total langweilig war“, erzählt eine junge Frau aus San Francisco. Der alternative Stadtrundgang führe sie dagegen viel näher ans Geschehen heran. Sie glaubt, am Kottbusser Tor echte urbane Kultur erlebt zu haben.