: „Abschalde!“
DEMO 60.000 Menschen sind gekommen, um gegen den Meiler Neckarwestheim zu demonstrieren. Es ist der erste Reaktor, der von der Laufzeitverlängerung profitiert hat
AUS STUTTGART MARTIN KAUL
Obrigheim, das ist ein Ort, da könnten sie froh sein. Hier, oberhalb des Neckars, ist der Atommeiler 2005 vom Netz gegangen. „Jetzt heizen die hier mit Holzschnitzeln“, lacht Frieder Bartlog an diesem Tag am alten Kernkraftwerk in Obrigheim in Baden-Württemberg. Weil niemand mehr den alten Parkplatz braucht, kann der Fahrschullehrer hier seine Jungs in Ruhe Moped fahren lassen.
Frieder Bartlog, 61-jährig, hat nichts gegen Atomkraft. Es wirkt fast so, als wünsche er sich den Betrieb des Kernkraftwerks wieder zurück, auch an diesem Samstag, an dem in Japan die Katastrophe ihren Lauf nimmt. Nein, noch nicht alle sind gegen Atomkraft. „Es will doch auch niemand rückwärtsgehen.“
Doch es wird nun einsamer um Frieder Bartlog. 40 Kilometer südlich, am Atomkraftwerk Neckarwestheim, da steht Brigitte Becker-Scharf heute neben Zehntausenden. „Steinzeit – nein danke!“, das hatten sie ihr damals zugerufen, als sie auch schon gegen Atomkraft war, das war noch vor Tschernobyl. „Auf die Steinzeit“, sagt die 64-Jährige heute, „bewegen wir uns wieder zu.“
60.000 Menschen sind gekommen, um zu demonstrieren, auch hier am alten, umstrittenen Standort Neckarwestheim, wo noch immer zwei Reaktoren in Betrieb sind. Hier steht Deutschlands zweitältester Kernreaktor. Und es ist der erste Reaktor, der von der Laufzeitverlängerung bereits profitiert hat, die die schwarz-gelbe Bundesregierung unter Angela Merkel (CDU) erst im letzten Jahr beschlossen hat. Hätte es die nicht gegeben, wäre der Altreaktor Neckarwestheim I heute schon vom Netz.
Hier geht es los, und bis hinunter in die Landeshauptstadt Stuttgart stehen die Menschen. 45 Kilometer lang ist die Menschenkette, die bis zur Stuttgarter Staatskanzlei reicht, dorthin, wo am 27. März mit Ministerpräsident Stefan Mappus (CDU) der Kopf der bisherigen CDU-Bastion Baden-Württemberg, abgewählt werden könnte.
„Bitterkeit“, sagen sie, sei ihr Gefühl des Tages. „Fassungslosigkeit“, „Wut“ und „Empörung“. „Wenn dieser GAU wenigstens etwas nütze würde“, sagt Brigitte Becker-Scharf. Da weiß sie noch nicht, wie viele Menschen heute mit ihr in der Kette stehen. 60.000, das ist ein mächtiges Zeichen. Niemand hatte mit so vielen Teilnehmern gerechnet, als die Planung der Menschenkette vor Monaten begann.
Es sind Leute wie die 15-jährige Theresia Collmer oder der Rentner Karl-Heinz Walde, 68, die an diesem Wochenende zum ersten Mal gegen Atomkraft auf der Straße sind, etwa hier bei der Abschlusskundgebung auf dem Stuttgarter Schlossplatz. „Weil jetzt mal die Bürger das sagen müssen, was die Politik ihnen sonst verschweigt“, ruft Walde. „Ned blos schwätza – abschalde!“ steht da vorne auf dem Transparent, das über der Menge hängt.
Und abschalten – das wollen sie hier alle. „Die Nachrichten sind vor allem beklemmend“, sagt Christoph Bautz. Er ist Geschäftsführer des atomkritischen Onlinenetzwerks Campact. „Aber klar ist auch: Wir haben immer auch vor dem Risiko von Atomkraftwerken mit sehr hoher Sicherheitstechnologie gewarnt. Schwarz-gelb wird enorm unter Druck geraten. Jetzt muss es grundlegende Antworten geben und nicht nur irgendwelche vagen Überprüfungsversprechen.“
Die Tage der Atomkritiker, des BUND und der Greenpeace-Aktivisten sind wieder angebrochen. Und es sind Tage, die für Veränderung sorgen könnten. „Die Menschen haben das lange Schweigen von Umweltminister Röttgen im Fernsehen gesehen, als er gefragt wurde, ob er eine Kernschmelze in Deutschland ausschließen könne“, sagt Tobias Riedl, Atomexperte bei Greenpeace. „Sie haben verstanden: Das kann eben auch bei uns niemand ausschließen.“
An diesem Samstag auf dem Stuttgarter Schlossplatz sieht es so aus, als ob die Havarie von Fukushima in Deutschland Folgen haben muss. Es sind Folgen, die im Laufe des Wochenendes sichtbarer werden. Während sich in Berlin die politische Debatte entfacht (siehe Text unten), formiert sich bereits ein neuer Protest. Spontan fanden am Wochenende in verschiedenen deutschen Städten Mahnwachen für die Opfer des japanischen Unglücks statt, in Hamburg etwa, in Gorleben und Ahaus, in Göttingen, Döbeln und Witten.
Minütlich, sagt Jochen Stay von der atomkritischen Initiative „ausgestrahlt“ am Sonntag, tragen sich neue Aktivisten auf den Infolisten der Initiative ein. Der Präses der Evangelischen Kirche in Deutschland, Nikolaus Schneider, kritisiert die Atomtechnik als „nicht menschengerecht“. Am Montag wollen Umwelt- und Anti-Atomkraft-Verbände beraten, wie die Proteste weitergehen können. Und am Abend wollen andere schon wieder auf den Straßen stehen: In über 60 deutschen Städten solle es am Montagabend um 18 Uhr neue Mahnwachen geben. Fukushima, sagen sie, das muss jetzt auch Deutschland ergreifen. Neckarwestheim etwa.