ARNO FRANK über GESCHÖPFE
: Werte Frau Maria Czedik-Eysenberg …

… nein, wir kennen uns nicht. Umso mehr drängte es mich, Ihnen diesen offenen Brief zu schreiben. Wer ich bin?

Man nennt mich Arno. Ein paar Jahre ist’s her – unwichtig, wie lang genau –, da hatte ich wenig bis gar kein Geld im Beutel, und an Land reizte mich nichts Besonderes, und so dacht ich mir, ich wollt ein wenig herumreisen und mir die Welt besehen. Immer, wenn in meiner Seele nasser, niesliger November herrscht, ist es höchste Zeit, mich in einen Zug zu setzen.

Auf den allerletzten Drücker hatte ich soeben den Bahnhof einer hessischen Kleinstadt erreicht, als mir auf der hektischen Suche nach dem richtigen Gleis plötzlich ein breitschultriger Gedanke in die Quere kam. Bedrohlich baute er sich vor mir auf, stemmte seine mächtigen Pranken in die Hüften, beugte sich vor und flüsterte: „Na, Alterchen, mal wieder unterwegs? Und haben wir da nicht etwas Wichtiges vergessen?“

Für einen Moment war ich verunsichert, wollte schon nach meiner Fahrkarte tasten, da dämmerte mir endlich, was auf Bahnfahrten noch wesentlich wichtiger ist als ein dummes Ticket: Lektüre, „was zum Lesen“, eine Zeitung, ein Buch, notfalls auch der Spiegel – einfach irgendwas, das lesbar wäre und nicht DB mobil heißt. So verzweifelt kann ich gar nicht sein, dass ich nach der Kundenzeitschrift der Bahn greife. Da durchforste ich lieber die Abteile nach dem journalistischen Leergut zerfledderter Regionalteile, die von Pendlern achtlos zurückgelassen wurden. Erstaunlich, was manche Menschen wegwerfen!

Mein Zug hatte glücklicherweise „leider 5 Minuten“ Verspätung, was mir etwas Luft verschaffte. Ich spurtete zurück in die Bahnhofshalle.

Noch vier Minuten.

„Internationale Presse“? Keine Chance, viel zu voll.

Noch drei Minuten.

Rein in den Buchladen. Er hatte sich in den Räumen des längst dicht gemachten Bahnhofsrestaurants eingenistet. Und auf Ramsch spezialisiert.

Noch zwei Minuten.

Fieberhaft scannte ich das Angebot. Schlanke Ratgeber. „VW Golf – selbst reparieren“. Fette Kochbücher. Bunte Bildbände. „Neuschwanstein aus der Luft (in Farbe)“. Kinderbücher. Rätselbücher. Historisches. „Graue Wölfe – die deutschen U-Bootfahrer im Zweiten Weltkrieg“. Genau, Arsch auf Grundeis.

Noch eine Minute.

Da fiel mein Blick auf ein Buch, über das ich erst kürzlich in der Neuen Zürcher Zeitung gelesen hatte, es sei „Melvilles berühmtester Roman, durch den sein Name wohl heller vom Sternenhimmel der Weltliteratur strahlt als der jedes anderen amerikanischen Schriftstellers des 19. Jahrhunderts“, ein Klassiker, wenn auch recht poppig aufgemacht, aber egal, das wollte ich doch immer schon mal lesen: „Moby Dick“ für nur 4,95 Euro!

Ich warf fünf Euro auf den Tresen, hetzte zurück und erreichte mit einem beherzten Hechtsprung, dass sich die Türen des Zuges „selbsttätig“ hinter mir schlossen, nicht vor mir. Uff. Erleichtert nahm ich meine Beute in Augenschein. Zwar war diese Ausgabe in einer „Jugendbuchreihe“ erschienen, was mich kurz irritierte, aber schon der erste Satz zerstreute meine Sorgen: „Man nennt mich Ismael …“

Gefesselt verbrachte ich die folgenden Stunden an Deck der „Pequod“, unter dem Kommando von Kapitän Ahab, auf der Jagd nach dem Weißen Wal und so …, und als der Zug in Berlin einfuhr, hatte ich die 160 Seiten schon durch. Na ja. Wie soll ich sagen, Frau Czedik-Eysenberg? Ich hatte diesen typischen Karl-May-Geschmack im Mund und fühlte mich, gelinde gesagt, nach Strich und Faden verarscht.

Gut, dachte ich, für einen Roman von 1851 war die Geschichte ungewöhnlich straff erzählt. So straff sogar, dass es mich mehr an Joanne K. Rowling erinnerte als an den „Sternenhimmel der Weltliteratur“. Eine Ahnung trieb mich in den Buchladen. Dort, Sie ahnen es, gab es den echten „Moby Dick“. Als Taschenbuch. Mit 800 Seiten. Es war das Original.

Was ich gelesen hatte, war ein „Moby Dick“ für Dummies.

Weil Sie, Frau Maria Czedik-Eysenberg, den Text „für die Jugend neu übersetzt“ haben, ist er auf alle Zeiten für die Jugend verloren. Für mich übrigens auch. Wäre ich Kapitän Ahab, ich würde Sie kielholen.

Fotohinweis: ARNO FRANK GESCHÖPFE Leidensgenossen? kolumne@taz.de Morgen: Barbara Bollwahn ROTKÄPPCHEN