: „Berlin ist eine besetzte Stadt“
LOTHAR BINGER
Witz und Humor sind eine ernste Sache. Das erforschte Sigmund Freud vor hundert Jahren, und es bestätigt sich alljährlich zu Karneval. Der Kulturhistoriker Lothar Binger forscht seit Jahrzehnten über den „Berliner Witz“ und hat darüber ein gleichnamiges Buch geschrieben. Der 65-Jährige kennt die Antworten auf die großen Fragen: Warum gibt es die „Berliner Schnauze“? Warum ist Kurt Krömer viel mehr als die Bühnenfigur eines Komikers? Und was war witzig an der Kommune 1? Der einstige Hausbesetzer und Freund der Ton, Steine, Scherben erzählt die Geschichte des Berliner Witzes. Sie ist auch seine eigene
INTERVIEW MATTHIAS LOHRE
taz: Herr Binger, wer versprüht heute typischen Berliner Witz?
Lothar Binger: Kurt Krömer.
Der hysterische Neuköllner Kleinbürger, die Bühnenfigur eines jungen Komödianten?
Diese Figur verkörpert den Berliner Witz perfekt: Krömer hat ein geringes Selbstwertgefühl, ständig schwankt er zwischen Resignation und Größenwahn. In einem Moment erzählt er, wie er in der Schule gedemütigt wurde und sich nur mit Worten wehren konnte. Im nächsten beschimpft er sein Publikum. Der Witz hat ihm geholfen, sich zu behaupten. Kurt Krömer, das ist der psychisch entblößte Mensch.
Wie reagieren Menschen, wenn sie hören, dass Sie den Berliner Witz erforschen? Die wollen doch sicher Scherze à la Krömer hören.
Das passiert oft. Wenn ich ihnen sage: „Ich mache keine Witze, ich analysiere die Bedingungen, unter denen der typisch berlinische Witz entstanden ist“, dann herrscht meist eine Weile Schweigen. Witz und erzählter Witz – das sind zwei unterschiedliche Dinge. Danach nenne ich aber meist ein Beispiel.
Und zwar?
Typisch für den Berliner Witz könnte folgende Szene sein: Ein Mann betritt ein Zugabteil und sagt: „Wenn ick ei’m aus Versehen auf die Hühneraugen trete, hau’ ick ihm direkt eens uff de Fresse. Damit er mir nich’ krummkommt.“
Andernorts gilt so was als Gewaltandrohung. Warum ist der hiesige Witz so aggressiv?
Jedem Witz liegt laut Sigmund Freud eine Gefühlsabwehr oder eine Aggression zugrunde, die nicht zugelassen und ins Unbewusste abHgedrängt wird. Als Witz kommt sie wieder an die Oberfläche – und ist in dieser Form gesellschaftsfähig. Dann heißt es: „War doch nur ein Witz.“
Witz gibt es aber nicht nur in Berlin.
Die berlinische Schärfe hat mit der Stadtgeschichte zu tun. Hier hat sich nie ein selbstbewusstes Bürgertum etabliert. Stattdessen beherrschten über Jahrhunderte autoritäre Obrigkeiten die Stadt, und denen fühlten sich die Berliner ausgeliefert. Am Anfang stand ein Aufstand namens „Berliner Unwille“: Mitte des 15. Jahrhunderts stritten sich das frisch vereinigte Berlin und Cölln. Lachender Dritter wurde der Kurfürst, der sich zum Herrscher aufschwang. Der schlug 1448, kurz nach dem Beginn des Schlossbaus, die Proteste der ihrer bürgerlichen Freiheiten Beraubten nieder. Die nächste Erhebung gab es erst 400 Jahre später – und war obendrein erfolglos. Seither haben viele die Stadt bevormundet: preußische Kurfürsten und Könige, auch die Kriegs- und Nachkriegsobrigkeiten bis heute. Berlin ist eine besetzte Stadt.
Der Berliner Witz ist nicht gerade politisch, eher auf den Alltag gerichtet.
Stimmt. Es kommt noch etwas Wichtiges hinzu: Über die Jahrhunderte hinweg wurden den Einheimischen neue Bevölkerungsgruppen vor die Nase gesetzt. Der Große Kurfürst holte hoch spezialisierte, gebildete Handwerker aus Frankreich ins Land – die Hugenotten. Die SED-Staatsführung importierte ungezählte Sachsen in die Hauptstadt der DDR inklusive Walter Ulbricht. Gleichzeitig zogen viele Schwaben und andere Bundesbürger nach Westberlin. Die jüngste Invasionswelle bricht seit der Wiedervereinigung über die Stadt hinein: Studenten, Politiker, Lobbyisten.
Aber warum reagieren die Berliner so empfindlich?
Weil sie sich gegenüber den Zugezogenen in der eigenen Stadt zurückgesetzt fühlen. Der Berliner Witz ist überwiegend eine Sache einfacher Leute, früher vor allem von Arbeitern und Handwerkern. Gebildetere Schichten halten dazu seit mindestens 150 Jahren Abstand, ähnlich wie zum Berliner Dialekt.
Gehen die Gruppen der Zugezogenen und Einheimischen nicht langsam ineinander auf?
Berlin ist so groß, dass jede soziale Gruppe ihre Oase beibehalten konnte. Das war bei den Hugenotten so, und bei den Rheinländern ist es heute ähnlich. Die feiern in der „Ständigen Vertretung“ übermütig Karneval, und draußen geht das Leben seinen gewohnten Gang.
Nicht ganz. Seit 2001 ziehen Karnevalisten in großem Tross alljährlich durch Mitte. Vertragen sich rheinischer Humor und Berliner Witz überhaupt?
Humor ist etwas ganz anderes als Witz. Wer einer misslichen Situation das Beste abringt und gelassen bleibt, der zeigt Humor. Deshalb stecken sich Menschen in alberne Kostüme – weil sie bereit und in der Lage sind, über sich selbst zu lachen. Berliner mögen kein Gelächter über sich. Sie hassen den Kontrollverlust und lachen lieber über andere. Das hat mit der protestantischen Ethik der Preußen zu tun: Wer ständig vom eigenen Gewissen kontrolliert wird, der vergibt sich nur schwer Fehler. Anders als die Katholiken, die sich an Aschermittwoch die Absolution für ihre Verfehlungen erteilen lassen können.
Also keine Hoffnung auf einen lustvollen Karneval an der Spree?
Ich bin da unsicher. Bei hiesigen Karnevalsumzügen werfen manche Zuschauer den Prinzen und Bauern ja sogar die Kamelle zurück auf den Festwagen.
Warum schauen sich dann jedes Jahr mehr Menschen den hiesigen Karnevalsumzug an?
Die Berliner sind gern an Orten, an denen viele Menschen sind. Das war bei den Militärparaden der Alliierten so, und beim Tag der offenen Tür auf dem Flughafen Tempelhof ist es immer noch so. Der Berliner ist ein Augenmensch. Er will anderen zuschauen und lästert gern über sie.
Seit 1963 halten Sie, aufgewachsen in Gütersloh, die „Berliner Schnauze“ aus. Warum erforschen gerade Sie den Berliner Witz?
In der Schule machte ich ständig irgendwelche Bemerkungen, zum Unwillen der Lehrer und zur Freude meiner Mitschüler. Dabei war ich kein Klassenclown. Als ich 16 war, gab mir ein Mitschüler Sigmund Freuds Buch „Der Witz und seine Beziehung zum Unbewussten“. Freud war für mich Ende der 50er-Jahre eine Offenbarung. Damals waren seine Schriften ja noch selten in deutschen Bibliotheken. Seitdem hat mich die Psychoanalyse gepackt: die Erklärung der Sexualität, der Beziehungen zwischen Vater, Mutter und Kind.
Und wo bleibt da der Witz?
Witze waren auch für mich ein Mittel, unangenehme Gefühle abzuwehren. Das Schöne war, dass ich damit sogar Geld verdienen konnte. Ab Mitte der 60er-Jahre zeichnete ich Karikaturen für das linksliberale Spandauer Volksblatt. Und 1968 änderte sich alles. Ich hatte bereits zwei kleine Kinder und baute damals die ersten Kinderläden mit auf. Kreativität wurde damals witzig.
Bitte?
Äh, wichtig. Ein Freud’scher Versprecher. Zur selben Zeit bekam ich Kontakt zur Kommune 1. Mit Fritz Teufel besuchte ich dasselbe Publizistikseminar. In der Kommune lernte ich, unsere Kinderlädenbroschüren zu drucken, später das Info Berliner undogmatischer Gruppen, kurz Info BUG. Allsonntäglich trugen Interessierte ihre Texte zusammen, die dann gedruckt wurden. Veröffentlicht wurde auch der Nachruf des anonymen „Göttinger Mescaleros“ auf den von der RAF erschossenen Generalbundesanwalt Siegfried Buback. Mehrere Drucker wurden damals verhaftet. Ende der 70er-Jahre ging das Info in der neu gegründeten taz auf.
Die westdeutsche Linke jener Jahre ist nicht gerade für ihren überschäumenden Witz bekannt.
Vieles hatte Witz. Fritz Teufel ging einmal mit einem Adventskranz auf dem Kopf ins Audimax der FU. Ich glaube, alle vier Kerzen brannten. Damals begann ich, Kinderbücher zu texten und zu zeichnen. Eines handelt von den „Roten Bremer Stadtmusikanten“. Darin befreien sich die Tiere aus der Knechtschaft und schließen sich zusammen. Am Ende besetzen sie in Bremen ein Haus.
Bald setzten Sie die Fabel in die Realität um.
Genau. Ab 1970 interessierte ich mich für Theaterprojekte von und mit Lehrlingen. Damals lernte ich die Macher des Lehrlingstheaters Rote Steine kennen, unter ihnen Ralph Möbius.
Der spätere …
… Rio Reiser, genau. Nach einem Konzert von Ton, Steine, Scherben 1971 besetzten wir ein Fabrikgebäude am Mariannenplatz 13, gegenüber vom leer stehenden Bethanien-Krankenhaus. Das Problem war nur: Die Polizei merkte es nicht.
Wie bitte?
Wir wollten ja auf unser Anliegen aufmerksam machen, wir brauchten Öffentlichkeit. Irgendjemand tat uns schließlich den Gefallen, die Polizei zu rufen. Wir wurden geräumt, später legalisiert, und nun hatten wir unser selbst bestimmtes Jugendzentrum. Die „Scherben“ wurden regelmäßige Gäste. Nach einem ihrer Konzerte besetzten wir Ende 1971 das Martha-Maria-Haus auf dem Bethanien-Gelände. Wir benannten es nach dem Anarchisten Georg von Rauch, der wenige Tage zuvor von der Polizei erschossen worden war. Das Haus gibt es heute noch. Wie es dazu kam, weiß heute kaum noch jemand.
Das klingt mehr nach der bierernsten deutschen Linken, nicht nach sprühendem Witz.
So bierernst war es nicht. Damals lernte ich, wie wichtig es Theater spielenden Lehrlingen war, ihre desolate Lage komisch umzusetzen. Einmal spielten sie spontan eine Szene, in der ein arbeitsloser Mörder zum Arbeitsamt geht, doch das Amt hat für ihn keinen Job. Das war kreativer Umgang mit Aggressionen, das hatte Witz. Viel später, 1986, veröffentlichte ich dazu meine Dissertation: „Witz und Komik im Theaterspiel von Unterschichtjugendlichen“.
Heute reden wieder viele von der „Unterschicht“. Wird der proletarische Berliner Witz aussterben, weil sich niemand dieser Gruppe zurechnen lassen will?
Nein, die Milieus wird es weitergeben, die kulturelle Hegemonie einer einzigen Gruppe ist nicht in Sicht. Nur die Relevanz des Witzes wird geringer werden. Nach dem Zweiten Weltkrieg haben Kabaretttruppen wie die Insulaner mit ihrer trotzigen Haltung noch ganz Deutschland erheitert. Heute fehlt dem Berliner Witz die politische Relevanz. Damit sind wir wieder bei Kurt Krömer.
Erzählen Sie zum Abschluss doch mal einen Witz.
Tut mir leid. Ich kann keine Witze erzählen.