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Archiv-Artikel

Ein Weckruf für die Chinesen

VOLKSKONGRESS Die Medien berichten informativ über die Katastrophe in Japan. Nur die Regierung schweigt. Der Volkskongress verabschiedet gigantisches Atomprogramm

AUS PEKING JUTTA LIETSCH

Ein gewaltiger Ausbau der Atomenergie, mehr Sozialwohnungen, Investitionen in den Umweltschutz und eine ausgeglichenere Wirtschaft gehören zu den wichtigsten Zielen, die Chinas Nationaler Volkskongress gestern in Peking verabschiedet hat. Der neue Fünfjahrplan, den die knapp 3.000 handverlesenen Delegierten des Pseudoparlaments am Montagmorgen absegneten, bekräftigte auch das Ziel, das Wirtschaftswachstum von rund 10 Prozent jährlich auf 7 Prozent zu dämpfen. Statt bisher 10 Gigawatt sollen Chinas Atomkraftwerke in fünf Jahren 40 Gigawatt Strom produzieren können – und im Jahr 2020 schon 80 Gigawatt.

Diese Beschlüsse kommen zu einer Zeit, in der China so viel über Gefahren der Atomenergie erfährt wie nie zuvor – und zugleich so viel von Japan sieht wie nie zuvor: Fast rund um die Uhr zeigten die TV-Nachrichtensender Chinas die Bilder vom katastrophalen Erdbeben, den Verwüstungen des Tsunami im japanischen Nordosten und den Explosionen im AKW Fukushima. Chinesische Journalisten berichteten live und informativ über Rettungsmaßnahmen.

Die Pekinger Staatssender holten Experten vor die Kamera und befragten chinesische Austauschstudenten als Augenzeugen aus Japan, um ein möglichst umfassendes und aktuelles Bild der Lage bieten zu können. „Wir müssen von den japanischen Erfahrungen lernen. Was wissen wir eigentlich über die Sicherheitsvorkehrungen für den Fall eines Atomunglücks in China?“, fragte ein chinesischer Kommentator. Im Pekinger Taxifahrer-Radio vergleichen Sprecher die Folgen der Unfälle im amerikanischen AKW Three Mile Island und im ukrainischen Tschernobyl: „Damals konnte man das Gemüse nicht essen.“

Das ist bemerkenswert: Plötzlich ist ein Thema in aller Munde, das die Pekinger Regierung in den vergangenen Jahren für die Öffentlichkeit tabuisiert hat. Wer bis zur vergangenen Woche in China nach Evakuierungsplänen oder anderen Vorbereitungen für den Fall von Nuklearzwischenfällen fragte, wurde mit vagen Formulierungen abgespeist. Tenor: „China hält sich an die internationalen Vorschriften, unsere Technik ist sicher“.

Im Fernsehen beruhigten Chinas Meteorologen die heimischen Zuschauer: Günstige Winde in den kommenden drei Tagen werden wohl verhindern, dass radioaktive Wolken zum chinesischen Festland treiben. An der Küste werde der Niederschlag regelmäßig gemessen.

Bemerkenswert ist die Reaktion in China auf das Unglück der Japaner noch aus einem anderen Grund: Das Verhältnis der beiden Länder war in den vergangenen Monaten gespannt, Grenzstreitigkeiten flackerten immer wieder auf. Für nationalistische Kreise in China ist Japan seit Jahren ein rotes Tuch.

Doch nun werden solche Animositäten beiseite gerückt. Ein chinesischer Rettungstrupp in schockrosa Uniform zählt zu den ersten internationalen Teams, die in Japan nach Überlebenden suchen. Wichtige chinesische Internet-Anbieter wie „Sina“ eröffneten Sonder-Webseiten zur Katastrophe in Japan. Das Portal „NetEase“ startete eine „Betet-für-Japan-Aktion“, und viele Chinesen bewundern die Ruhe, gegenseitige Rücksichtsnahme und Disziplin, mit denen die Japaner auf den Schock reagieren.

Einige Internetkommentatoren nutzen die Gelegenheit zum Vergleich: Im Südwesten Chinas hat es am Donnerstag ebenfalls gebebt. Obwohl die Erschütterungen in der dünn besiedelten Gegend unweit von Birma nur eine Stärke von 5,8 erreichten, brachen hunderte Häuser zusammen, 25 Menschen starben: „War die Natur schuld an ihrem Tod oder war es ein menschengemachtes Unglück?“ Andere sehen darin einen „Weckruf“ für die Chinesen: „Warum, warum, warum müssen sie Atomkraftwerke bauen“, schrieb einer.

Von ihrer Regierung können sie allerdings keine Antworten erwarten. Während die Gefahr eines GAUs in Japan wuchs, schwiegen Pekings Führer sich zu dem Thema einfach aus. In seiner über zweieinhalbstündigen Pressekonferenz zum Abschluss des Nationalen Volkskongresses erwähnte Premierminister Wen Jiabao das Thema Atomkraft mit keinem Wort.