: Allein mit Mutter
AUS PEKING GEORG BLUME
Rote Socken und rote Unterhosen für einen elfjährigen Jungen? „Warum denn nicht? Ich würde sie anziehen“, sagt Ma Tianyi. Tianyi – kurze Haare, Segelohren – ist eines von 276 Millionen chinesischen Kindern unter 14 Jahren, aber kein typisches. Er trägt den Kinderchic von Chinas neuer urbaner Mittelschicht: hellblaue Jeans der Hongkonger Marke Giordano und einen schwarzen Kapuzenpulli mit der Frakturaufschrift „Crash Riders“. Typisch ist nur, dass sich dieser Tage auch bei ihm alles um das chinesische Neujahrsfest dreht. Für die meisten Kinder in China ist der Beginn des Mondjahres, der diesmal auf den gestrigen Sonntag fiel, der wichtigste Tag im Jahr. Dann können sie Böller zünden und von den Verwandten Geld einsammeln. Geburtstage und Weihnachten werden dagegen in der Regel kaum gefeiert.
Für Tianyi begann gestern zudem ein ganz besonderes Jahr: das Jahr des Schweins, in dem er geboren ist. Deshalb bietet seine Mutter an, ihm rote Socken und rote Unterhosen zu kaufen. Die sollen im Jahr des eigenen Tierkreiszeichens die Menschen beschützen. Tianyi findet das witzig. Seine Mutter aber hat ihr Angebot eigentlich nicht ernst gemeint. Die Rote-Socken-Tradition findet sie abergläubisch. Sie hat sich früher gegen viele dieser alten Traditionen gewehrt.
Ihr Sohn aber kennt die meisten von ihnen gar nicht mehr. Nicht einmal mit dem Schwein als seinem Tierkreiszeichen kann er etwas anfangen. Dass Schweine charakterlich als gute Freunde, klar denkend und großzügig gelten, weiß er nicht, und es interessiert ihn auch nicht. Besser kennt er sich mit dem westlichen Horoskop aus. Er erzählt, dass seine Eltern Krebs und Jungfrau sind und die beiden Sternzeichen gut zueinander passen.
Tianyi liegt mit ausgestreckten Beinen und angewinkelten Ellbogen auf dem hellen Holzparkett neben dem Wohnzimmertisch seiner Eltern und liest ein ins Chinesische übersetztes japanisches Mangaheft aus der Serie „Dragon Ball“. Es sind noch drei Tage bis Neujahr. Tianyi hat schon zwei Wochen Neujahrsferien hinter sich. Er langweilt sich. Er steht auf und ahmt Kampfbewegungen nach, wie er sie aus Videospielen kennt. Er holt einen weichen, gelben Plastikball und übt mit dem rechten Fuß Hochhalten. Nur dreimal konnte er bisher in den Ferien einen Schulfreund besuchen – die meisten verbringen die ganzen Ferien mit Nachhilfeunterricht. „Blöd“ findet Tianyi das. Er selbst muss nicht lernen. Die Mutter gönnt ihm jetzt Freizeit.
Sie leben in einer neuen dreistöckigen Apartmentwohnung im Pekinger Satellitenvorort Wangjing. Wie Tianyis Familie wohnen in China die oberen 100 Millionen. Er hat ein eigenes Zimmer. Sein Schreibtisch, ein Hochbett und ein Bücherregal – alles ist aus Kiefernholz, das zählt in einer Stadt wie Peking schon fast zur Normalausstattung für Kinder.
Tianyi macht es sich auf dem Teddybärenbezug seines Hochbetts gemütlich und lässt sich ein wenig ausfragen. Sein Vater arbeitet für eine japanische Firma, er sieht ihn wenig. Seine Mutter ist Japanologin, hat die Arbeit aber aufgegeben, um sich um Kind und Haushalt zu kümmern.
Am liebsten spielt Tianyi Volleyball und Badminton. Aber das geht nur in der Schule. Jeden Samstag besucht er einen zweistündigen Malkurs, jeden Sonntag einen Englischkurs. Froh ist er, dass die Mutter endlich den Klavierunterricht abgesagt hat. Tianyi springt vom Bett und holt seine Zeichenmappe. Die Bleistiftzeichnungen zeigen sorgfältig komponierte Stillleben. Er will einmal Designer werden, sagt Tianyi. „Ich will viele neue Formen schaffen.“ Seine Mutter hat eine klare Vorstellung von Tianyis Zukunft. Sie will ihr Kind zum Studium ins Ausland schicken. Tianyi erhält deshalb jetzt schon Englischkursmaterialien aus Cambridge. Sie zeigt eine Urkunde, die ihn als „Cambridge Young Learner“ ausweist. Sie weiß, wie viel von dem Sohn allein schon in der Schule gefordert wird. „Die Kinder können nicht dauernd nur lernen“, sorgt sie sich. Doch Tianyi beruhigt sie: „Heute ist die Schule eben schwieriger als früher, Mama“, sagt er. Es klingt nicht einmal altklug.
Die Neujahrsferien sind für Tianyi eine echte Ausnahmezeit. Denn den Rest des Jahres, auch die Sommerferien, bestimmt die Schule. Da muss er lernen, fast rund um die Uhr.
Gut drei Wochen ist es her, da holte die Mutter am letzten Freitag vor den chinesischen Neujahrsferien Tianyi von der Schule ab. Es ist ein milder Wintertag. Sie fährt einen beigen Honda-Kombi, denn der Weg zur Schule ist weit. Auch bei fließendem Verkehr braucht sie eine Stunde. Doch es stört sie nicht. Sie und ihr Mann haben Tianyis Schule sorgfältig ausgewählt. Sie liegt zwischen alten Arbeiterhäusern im ansonsten supermodernen Pekinger Universitätsviertel Zhongguancun.
Obwohl die Schule äußerlich anderen Schulen gleicht, ist sie eine Eliteschule. Vor dem Schultor hängen Glaskästen, in denen Fotos vom Ausflug des Schulchors nach Wien und einer 6. Klasse nach Paris hängen. Wer hierher kommt, hat gute Chancen, an die besten Schulen und Universitäten der Hauptstadt zu gelangen. Dafür zahlen neureiche Eltern hohe Gebühren und ermöglichen den Grundschülern sogar Ausflüge nach Europa.
Die Mutter erreichte die Schule kurz vor Schluss. Drinnen, es ist die letzte Stunde vor den Ferien, saß Tianyi vornübergebeugt an einem kleinen Holztisch in der fünften Reihe und schrieb die Hausaufgaben auf. Neben ihm saßen 55 Schüler an den gleichen Tischen. Die Kinder hatten den üblichen langen Schultag von acht Uhr morgens bis halb fünf nachmittags hinter sich. Aber aus dem engen, rappelvollen Klassenzimmer drang immer noch kein Mucks, erst als der Schulgong schlug, herrschte ein Riesengeschrei. Tianyi sprang auf, packte eilig sein Bündel mit Schutzumschlägen versehener Schreibhefte in seinen grauen Jeansrucksack und drängelte nach vorn. Klassenkameraden und Lehrerin würdigte er keines Blickes mehr. Er wollte zur Mutter, die bereits im Flur des alten Schulgebäudes auf ihn wartete.
In diesem Moment, zwischen all den schreienden Schülern, fiel besonders auf, wie allein Tianyi und seine Mutter manchmal sind. Auch jetzt, in den Neujahrsferien, sind sie mit Ausnahme der Festtagswoche fast immer zu zweit. Sie gehen abends gerne essen. Am liebsten fährt Tianyi ein Stück mit dem Auto zu Pizza Hut.
So sitzt Tianyi am Mittwoch auf dem Vordersitz neben seiner Mutter und legt eine Hiphop-CD aus Taiwan auf. Er schaukelt den Kopf im Takt der Musik. Dann stellt er Fragen zu Weihnachten. Weil doch Weihnachten in Deutschland wie das Neujahrsfest in China sein soll. Er will wissen, ob man in Deutschland den Baum wirklich mit ins Haus nimmt, ob der dafür nicht zu groß ist und ob man jedes Jahr einen neuen kauft.
Später, bei Pizza Hut, in einem riesigen neuen Einkaufszentrum von Peking, denkt Tianyi an das nun bevorstehende Neujahrsfest. Er findet es ungerecht, dass er die Silvesternacht und den ersten Neujahrstag immer bei den Großeltern väterlicherseits und erst den zweiten Neujahrstag bei den Großeltern mütterlicherseits verbringt. Man sollte das von Jahr zu Jahr wechseln, meint Tianyi. Er weiß offenbar nicht, dass die Mutter nach chinesischer Sitte eigentlich in die Familie des Vaters gehört und es sich in vielen Familien von selbst versteht, zunächst mit den Eltern des Vaters zu feiern.
Am meisten freut sich Tianyi aufs Knallen. 15 Tage lang darf ab dem ersten Neujahrstag in Peking ohne Unterlass geböllert werden. Zu Hause hat Tianyi schon einen Müllsack voller Böller und Raketen. Nur anzünden darf er sie nicht allein. Ungerecht findet er das.
Nach dem Knallen, wenn die Familie am Neujahrsmorgen aufsteht, dürfen die Kinder ihr sogenanntes Jahresgeld verlangen. Tianyi bekommt es von den Großeltern. Sie überreichen es ihm in einem roten Umschlag und sagen dazu, er sei jetzt ein Jahr älter und solle brav und fleißig bleiben und in der Schule weiter für gute Noten sorgen. Derart ist er im vergangenen Jahr pro Großelternpaar um 1.000 Yuan (umgerechnet 100 Euro) reicher geworden, erzählt Tianyi. Doch die Mutter sei streng: Sie deponierte das Geld auf der Bank und zahlt damit Schul- und Busgebühren. „Ich selbst kann mir nichts kaufen“, klagt er.
Morgen, am dritten Neujahrstag, will Tianyis Familie zusammen verreisen, mit den vier Großeltern, drei Tanten, zwei Onkeln, den Eltern, Tianyi und zwei Kusinen. Zwei Nächte wollen sie gemeinsam in einem Resort mit Schwimm- und Sporthalle in der Nähe der Großen Mauer verbringen. So etwas gehört zu den neuen Vergnügungen der besser verdienenden Hauptstädter. Tianyi aber stört, dass so wenig Kinder zum Spielen dabei sind. Er denkt, es liegt daran, dass die Regierung den Familien verbietet, mehr als ein Kind zu haben. Doch seine Mutter widerspricht: „Uns haben viele gefragt, warum wir kein zweites Kind haben. Aber es ist zu viel Aufwand“, sagt sie. Tatsächlich ist die Einkindregelung in China nicht mehr Zwang, und die fälligen staatlichen Gebühren für ein zweites Kind sind für Wohlhabende leicht erschwinglich.
Tianyi hört das alles zum ersten Mal. Er hat seine Salamipizza längst aufgegessen und spielt unter dem Tisch mit seinem Nintendo-Gameboy-Helden Naruto. „Ich habe nie an ein Geschwisterkind gedacht“, gesteht er offen und unterbricht sein Spiel. Trotz des Schulstresses und des vielen Alleinseins mit der Mutter ist er ein fröhliches, zugängliches Kind geblieben. Auch das ist in China keine Selbstverständlichkeit.