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Archiv-Artikel

GUT, WENN MAN MIT DEM MÖRDER DER EIGENEN FAMILIE NICHT MEHR IN EINEM HAUS LEBEN MUSS. PROBLEME GIBT ES TROTZDEM Von Block zu Block

AMBROS WAIBEL

Meine Familie ist ermordet worden. Nein, nicht die ganze. Aber doch ein sehr großer Teil.

Entscheidend ist, dass der Mörder die ganz klare Absicht hatte, meine gesamte Familie zu ermorden. Und wenn ihn nicht Freunde aus aller Welt daran gehindert hätten – gut, man kann jetzt darüber streiten, ob sie ihn tatsächlich explizit daran hindern wollten, denn der, der meine Familie auslöschen wollte, hatte noch jede Menge mehr kriminelle Energie und wahnwitzige Pläne –, also vielleicht sind sie gar nicht unsere Freunde und wollten den Mörder vornehmlich an etwas anderem hindern, egal, denn: Er wurde letztendlich daran gehindert, meine gesamte Familie zu ermorden.

Unter den Maßnahmen, die ihn dazu brachten, meine Familie nicht weiter morden zu dürfen, hat er gewiss gelitten. Aber er hat überlebt. Und er lebt immer noch, heute sogar wieder sehr, sehr gut. Außergewöhnlich gut.

Meiner Familie hingegen geht es so lala. Klar, wir haben ein neues Zuhause bekommen, weit genug entfernt von dem Mörder. Wir haben begriffen, dass wir uns nicht auf andere verlassen können. Manche sagen, dass wir gar nicht mehr bedroht werden. Sondern eine Bedrohung für andere geworden sind. Weil wir, sagen manche, immer noch denken, jemand wolle uns auslöschen, sind wir selber zu Auslöschern geworden.

Wenn ich mich bei mir zu Hause so umsehe, dann denke ich manchmal, diese Leute haben recht und wir sind tatsächlich irre geworden durch das abscheuliche Verbrechen, das uns angetan wurde. Dann habe ich es satt, dass unsere Haustür drei Riegel hat und wir zum Selbstverteidigungskurs geschickt werden wie andere zum Rechnen- und Schreibenlernen.

Unsere Nachbarn hier im Block sind aus anderen Gründen sauer auf uns. Sie sagen, dass es nicht ihre Schuld ist, dass jemand anderes versucht hat, uns umzubringen. Und dass uns das kein Recht gibt, die schönste Wohnung im Block zu besetzen.

Ich verstehe das, aber man muss auch sagen: Bevor wir kamen, stand der halbe Wohnblock leer. Und wir haben nur deswegen die schönste Wohnung, weil wir sie selbst renoviert haben. Und weil uns unsere Nachbarn erst überhaupt keine Wohnung geben wollten. Da haben wir irgendwann gesagt: Leute, so geht das nicht. Aber es ist nicht schön, in dieser Atmosphäre leben zu müssen. Doch dahin zurückgehen, wo unsere Mörder wohnen – das wollen wir auch nicht.

DIE FÜNFTAGEVORSCHAU KOLUMNE@TAZ.DE

Freitag

Michael Brake

Kreaturen

Montag

Josef Winkler

Wortklauberei

Dienstag

Jacinta Nandi

Die gute Ausländerin

Mittwoch

Matthias Lohre

Konservativ

Donnerstag

Margarete Stokowski

Luft und Liebe

Andere haben damit kein Problem. Viele ehemalige Nachbarn von uns wohnen heute im Block unseres Mörders. Es geht ihm wie gesagt wieder sehr gut, und den Nachbarn geht es dort, wo unser Mörder wohnt, auch besser als hier, bei uns. Meinen sie jedenfalls. Dort können sie sagen, was sie von uns halten. Sie können dort sagen, dass wir aus ihrem Wohnblock verschwinden sollen. Und gerade erst hat unser Mörder betont, dass es bei ihm im Block straflos möglich sein muss, zu sagen, dass es uns nicht geben dürfte, zumindest nicht in unserem Block.

Wir haben dabei kein gutes Gefühl. Aber wir haben auch keine Angst. Meine Familie ist ermordet worden. Nein, nicht die ganze.