lillys linsen von JOACHIM SCHULZ
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Wir freuten uns nicht mehr aufs Wochenende. „Ich hasse Linsen!“, motzte Luis: „Der Erfinder des Linseneintopfs soll für alle Ewigkeit in der siebten Hölle köcheln. In einem Topf mit Suppengrün und Würstchen!“ Ich seufzte und nickte.

Seit Wochen fuhren wir jeden Samstagabend zu Carlo und kochten Linsen für ihn. Wir träumten von Linsen, durch unsere Adern floss Linsenextrakt, und jeden Sonntagmorgen fühlten wir uns wie große, prall gefüllte Heißluftballons. Doch wir hatten Carlo geschworen, das Rezept für Lillys Linseneintopf herauszufinden. Und diesen Schwur mussten wir halten.

Fünf Monate hatte Carlos Romanze mit Lilly gedauert, ehe Lilly sich eines Tages heimlich davonmachte. Unser Freund litt nur wenig darunter, dass sie fort war. Er hatte sich daran gewöhnt, dass seine Amouren von sehr begrenzter Haltbarkeit waren. Trotzdem versetzte ihn Lillys Verschwinden in eine desolate Verfassung, und das lag an der Suppe. „Wenn sie mir schon einen Abschiedsbrief hinterlässt“, hauchte er, „warum schreibt sie dann das Rezept nicht auf? Sie weiß doch, dass ich nach diesem Eintopf süchtig bin.“ Wir versuchten ihn nach Männerart zu trösten, mit langen Nächten in Kneipen und großen Mengen Bier. Doch seine Stimmung besserte sich nicht. Er brauchte keine Kneipen, kein Bier – er brauchte Linsen à la Lilly.

So fanden wir uns Samstag für Samstag in seiner Küche ein, um mit den Hülsenfrüchten zu experimentieren. „Versuch dich zu erinnern!“, sagten wir: „Was war außer Linsen in der Suppe? Möhren? Kartoffeln? Lauch?“ – „Hm“, machte Carlo, „Möhren …“ – „Ja?“ – „Keine Ahnung.“ Wir nahmen den nächsten Anlauf: „War vielleicht Reis drin? War sie mit Curry gewürzt?“ – „Sie war …“ – „Ja?“ – „Sie war einfach nur göttlich!“ Genauere Informationen waren ihm nicht zu entlocken.

Also probierten wir sämtliche Linseneintopfrezepte aus, die jemals zwischen Dortmund und Djakarta, Yokohama und Yaoundé ersonnen worden waren. Wir kochten Linsen in Rotwein, kombinierten sie mit Nüssen und Mais, würzten sie mit Bockshornklee und Chili, Senfkörnern und Ingwer, Koriander und, und, und … Doch jedes Mal kostete Carlo nur einen Bissen, um dann den Löffel wegzulegen und in Tränen auszubrechen. „War wieder nix“, sagte ich, und Luis nickte, ehe wir den Topf alleine leer aßen.

Mithin hatten wir gute Chancen, die Samstagabende bis ans Ende aller Zeiten mit Linsenexperimenten zu verbringen. Am vorletzten Wochenende aber, als wir mit den Zutaten für einen tscherkessischen Hirtentopf anrückten, empfing uns Carlo freudestrahlend. „Kommt rein, Freunde!“, rief er: „Schaut! Riecht! Probiert!“ Er schob uns in die Küche und hob den Deckel von einem Topf, in dem eine graue Suppe dampfte, die schauderhaft roch. „Das sind …?“, fragte ich. „Genau: Lillys Linsen!“, frohlockte er und schöpfte eine Probierportion in ein Schälchen, das er Luis reichte. „Aber wo …?“ – „Im Keller!“, sagte er: „Stand ganz unten im Regal.“ Und während Luis’ Miene verriet, dass die Suppe genauso schmeckte, wie sie roch, hielt Carlo eine leere Konservenbüchse hoch, in der sich, laut Aufschrift, ein „Linsen-Delikatesstopf ‚Müllerin Art‘“ befunden hatte.