: Das sexuelle Elend ohne Korsett
LIEBE Der Sexualwissenschaftler Volkmar Sigusch resümiert den Kampf für die sexuelle Freiheit seit der 68er-Revolte
Der Autor blickt zurück. Er steht nicht mehr in akademischer Verantwortung; Volkmar Sigusch leitete von 1973 bis 2006 das Frankfurter Institut für Sexualwissenschaft.
Diese universitätsmedizinische Einrichtung war mit seiner Bestellung, 33-jährig damals, geboren worden und mit seiner Emeritierung zugleich beerdigt worden. Diese Institution hatte wie keine andere in der Bundesrepublik zum Programm, das Sexuelle aus dem Gefängnis des Medizinistischen, dem die Neigung zum Pathologisieren eigen ist, zu befreien. Sexualität, kurz gesagt, wurde als wissenschaftliche Denkaufgabe begriffen, zu ihr das Kulturelle, Gesellschaftliche, Politische nicht nur zu addieren, sondern die Bedingtheit der Körperlust (und -last) aus den außerkörperlichen Umständen mitzubegreifen.
Sigusch hat in „Auf der Suche nach der sexuellen Freiheit“ keine neuen Ideen vorgelegt, sondern eine Art Greatest-Hits-Album seiner eigenen publizistischen Interventionen kompiliert. Der Leiter als öffentlich Gefragter – man liest es nach in Form von nachgedruckten Glossen, Interviews oder Aufsätzen, die der Autor in verschiedenen Medien veröffentlicht hat.
Das Credo lässt sich in etwa so bündeln: Das Leiden der Menschen am Sexuellen findet kein wirkliches Ende. Immerhin verkörpere die Selbstbefriedigung nicht mehr den Selbstschrecken wie dereinst. Vielmehr sei diese eine weithin akzeptierte Form der Lustbereitung geworden. Davon abgesehen, dass dieser Befund als fragwürdig gelten kann, kann Siguschs Tonalität allen Liberalisierungen gegenüber als leicht hochmütig empfunden werden: Als ob der Unterschied zwischen den Fünfzigern und ihrer christlich inspirierten Angstmache und der Jetztzeit und ihren durchsexualisierten Oberflächen in den Medien nicht ein frappierend freiheitlicher ist. Heutzutage lässt sich nichts mehr wirklich verordnen, keine Verbote mehr etablieren. Anything goes – Sigusch nennt dies ein Setting der Neosexualitäten. Alles ist möglich, alles kann Ausdruck finden, sofern die an irgendeiner sexuellen Spielart beteiligten Personen dies wollen.
Unklar bleibt, wie es dazu kommen konnte – dass allein ein Bildervergleich zwischen den sexuell verbotsamen Nachkriegsjahren und heute nahelegt, die „Mystifikation“ (Sigusch) dort zu suchen, wo die Marktkräfte nicht behindert werden können. Der Kapitalismus, könnte man als These formulieren, entledigt sich mehr und mehr der religiösen Instanzen, die die Körperlust auf das Funktionsheterosexuelle beschränkt sehen wollten. Welchen Anteil hat also Beate Uhse und ihr Sexualinstrumentengewerbe an der Zersetzung des einst Pönalisierten? Oder: Wie eigensinnig konnten Menschen und ihre Lüste gerade in einer religiös mehr und mehr neutraler werdenden Sphäre des Gesellschaftlichen werden? Warum wirkt vielen Menschen das Sexuelle heute nur noch wie ein leeres, zugleich glänzendes Versprechen, das alles Glück verheißt und auf der anderen Seite auf die Süße, die jedem Verbotshaften innewohnt, verzichten muss?
Sigusch, der nach seiner Emeritierung auch eine „Geschichte der Sexualwissenschaft“ herausgegeben hat, der mit der Chiffre von den Neosexualitäten im akademischen Diskurs der Sexualwissenschaft präsent bleibt, weiß leider die Früchte der Freiheit kaum ernst zu nehmen. Er konstatiert das Gesellschaftliche, das wie eh und je dem echten Rausch im Wege steht, vor allem, weil es kapitalistisch ist. Schüler Adornos und Horkheimers, kann es für ihn im Grunde kein gewöhnliches sexuelles Elend geben – alles scheint ihm nach wie vor falsch. Das macht die, im Übrigen stark bildungsangeberisch, gern lateinisch, griechisch durchsetzte, Lektüre mühsam.
Eine Dokumentationssammlung von intellektuellen Initiativen einer Disziplin, die sich stets unsicher fühlen musste, von der rein somatisch orientierten Psychiatrie, der Medizin, den Neurowissenschaften absorbiert zu werden, ist dieses Buch dennoch. Ein kulturkritisches Kompendium, so gesehen, ein Vademecum, das unentwegt dem Publikum neue Fachworte anbietet. Objektophilie beispielsweise oder Polyamorie – Sigusch glaubt in der Liebe von Menschen zu toten Objekten oder in dem Talent, mehrere Personen gleichzeitig lieben zu können, Neues entdeckt zu haben. Das ist es nicht nur nicht, sondern enthüllt vielmehr ein schematisches Verfahren, das ständig neue Aspekte menschlich aufgeladener Sexualfantasien entdeckt und doch nur Altbekanntes normativ zu korsettieren scheint. JAN FEDDERSEN
■ Volkmar Sigusch: „Auf der Suche nach der sexuellen Freiheit. Über Sexualforschung und Politik“. Campus Verlag, Frankfurt am Main 2011, 298 Seiten, 24,90 Euro