: Bäckerinnen und ein singender Deserteur
FILMZYKLUS In „Mafrouza“ nimmt sich die französische Regisseurin Emmanuelle Demoris viel Zeit für den Alltag in einem ägyptischen Slum, dessen Bewohner auf den Überresten eines historischen Friedhofs wohnten
VON EKKEHARD KNÖRER
Ein Slum mit Meerblick: das ist Mafrouza, in der ägyptischen Großstadt Alexandria gelegen. Frei ist die Sicht auf Meer und Hafen allerdings nicht. Der Slum liegt in den Ruinen eines tausende Jahre alten Friedhofs der ehrwürdigen Stadt. In den Trümmern haben sich Menschen eingerichtet. Die französische Filmemacherin Emmanuelle Demoris interessierte sich, als sie Ende der Neunziger nach Alexandria kam, zunächst für den Friedhof. Dann entdeckte sie seine heutigen, sehr lebendigen Bewohner, begann sie zu filmen, schloss Freundschaften, kehrte zwei Jahre lang mehrfach wieder.
Fünf Filme, jeder rund zweieinhalb Stunden lang, sind daraus nach und nach entstanden, seit ihrer Uraufführung im vergangenen Herbst in Locarno liegt der Zyklus nun in jener endgültigen Fassung vor, die das Arsenal zeigt. Sie sind dokumentarisch im besten und einfachsten Sinn des Worts. Frei von jedem Voiceover-Kommentar, man sieht und hört nur die in Mafrouza lebenden Menschen. Sie sind lange im Bild, sie kommen ausführlich zu Wort, die Regisseurin und ihre auf der Schulter getragene Digitalkamera sind mitten unter ihnen. Immer wieder wird die Anwesenheit der Kamera thematisiert: mal spöttisch, mal freundlich, mal skeptisch. Was machst du da für Bilder, wird die Regisseurin gefragt. Wie stehen wir in den Augen des Auslands da?
Demoris selbst tritt nicht als Handelnde auf. Sie bleibt mit offenen, bald auch liebenden Augen blickende Adressatin der Selbstdarstellungen ihrer Protagonisten. Die machen klar, dass sie sich für nichts und durch niemanden ausbeuten lassen wollen. Nicht im richtigen Leben, nicht durch den Film. Denkbar weit ist „Mafrouza“ von Elendspornografie oder gut gemeinter ethnografischer Sozialpädagogik entfernt. Alle, die wir sehen und in der Anwesenheit der Kamera erleben, sind selbstbewusste Subjekte mit individuellen Geschichten. Zu allen setzt der Film sich und uns in ein Verhältnis. Auf der niemals völlig zu überquerenden Brücke vom Ort, an dem der Zuschauer ist, an den anderen Ort, den die Kamera zeigt, gelangt man in „Mafrouza“ so weit wie in wenig anderen Filmen.
Die Dauer von rund zwölf Stunden ist dabei von großer Bedeutung. Jeder bekommt seine Zeit. Abu Hosny, der aus seiner von Wasser überfluteten Behausung flieht, Monate später, als alles getrocknet ist, wieder zurückkehrt, bis er sich des unerklärt wieder heransickernden Wassers aufs Neue zu erwehren hat. Der Deserteur Hassan „Stohi“, der der Welt mit Gesang begegnet, der stolz seine Narben zeigt an sämtlichen Teilen des Körpers: sichtbarer Niederschlag einer rundum widerstandsfreudigen Biografie. Ein Paar, das sich trennt und wieder zusammenkommt. Die zwei Frauen, die in einer Trümmerwüste zwischen Ruinen Brot backen und nach der Zerstörung des improvisierten Backofens Stein auf Stein einen neuen erbauen, schwer angesichts des Mangels an Wasser für den anzurührenden Matsch-Zement. Das dauert im Film seine zwanzig Minuten, man bekommt dadurch eine Ahnung von der Mühe des Tuns unter unwirtlichen Bedingungen.
Und wie ist am Ende das Bild dieses Ausschnitts aus dem ägyptischen Leben fürs Ausland? Vor allem vielfältig, reich, differenziert. Der fünfte Film konzentriert sich auf Mohammed Khattab, zugleich Kioskbetreiber und Imam in der Moschee. Er wird, wohl von plötzlich in Mafrouza auftauchenden Muslimbrüdern, seines religiösen Ehrenamtes enthoben. Vor der Kamera spricht er über die Kränkung und erklärt, warum er den Fundamentalismus verachtet.
Das differenzierte Bild einer Gesellschaft, das dabei entsteht, wiegt schockweise Leitkommentarliteratur zum Thema Ägypten auf. Auch eine fast geschwisterliche Freundschaft zwischen einer Muslimin und einer Christin ist ein weiterer wichtiger Strang in den wunderbar rhythmisch ineinander montierten Geschichten dieses außergewöhnlichen Filmprojekts.
Das Ende von Mafrouza dokumentiert der Film nicht: Seit 2007 leben Hassan und Hosny, Mohammed Khattab und die anderen nicht mehr hier. Der Slum musste einer Hafenerweiterung weichen, seine Bewohner wurden umgesiedelt in Wohnblöcke weit außerhalb des Zentrums. Das macht „Mafrouza“ zum Testament einer untergegangenen Welt.
■ „Mafrouza – Oh la Nuit“, heute, 20 Uhr, Eröffung mit der Regisseurin im Arsenal. Weitere Folgen bis 26. März