: Liebevolle Plädoyers
Jenseits von Hollywood und europäischem Autorenkino. In der heute beginnenden Reihe „Best of Cinelatino“ zeigt das 3001 noch einmal die fünf beim Publikum beliebtesten lateinamerikanischen Filme im untertitelten Original
Vor über 20 Jahren verfasste Fernando „Pino“ Solanas gemeinsam mit Octavio Getano das legendäre Manifest für ein „Kino der Dekolonisation“. Der Versuch, ein eigenes Kino jenseits von Hollywood und europäischem Autorenkino aufzubauen, getragen von der Suche nach Identität. Von dieser Suche erzählt Solanas Film „Die Reise“ („El viaje“), der jetzt im Rahmen der heute beginnenden „Best of Cinelatino“-Reihe im 3001 zu sehen ist. Der 17-jährige Martín begibt sich darin mit dem Fahrrad auf die Suche nach seinem Vater – in Wirklichkeit aber nach sich selbst. Eine Reise durch ganz Lateinamerika, durch seine Mythen, seine reiche Geschichte bis zu den katastrophalen sozialen und ökologischen Zuständen der Gegenwart. Ein politisch engagiertes, poetisches Roadmovie voller Satire, Surrealismus und Symbolismus, das letztlich zeigen soll, dass „wir alle aus Leidenschaft und unerschöpflichen Träumen bestehen“.
Eine Liebeserklärung an die Leidenschaft ist auch „Der letzte Zug“ („El último Tren“) des uruguayischen Werbefilmers Diego Arsuaga. Der Spielfilm erzählt von drei alten Käuzen, die verhindern wollen, dass die historische Dampflok „Feuerherz“, das letzte Relikt der glorreichen Eisenbahnzeit in Uruguay, an eine US-Filmproduktionsfirma verscherbelt wird. Sie entführen kurzerhand die Lok und flüchten auf überwucherten Gleisen gen Brasilien. Schwierigkeiten machen den drei Dickköpfen indes Herzbeschwerden, Senilität und die „Schwindelsucht“ Pepes, der mit angeblichen wahren Geschichten vom Spanischen Bürgerkrieg nervt. Und doch gelingt es den Rentnern mit Einfallsreichtum und Unterstützung der Bevölkerung, der Polizei immer wieder zu entwischen. Ein freches, melancholisches und poetisches Plädoyer für Anarchie und Zivilcourage vor beeindruckender Landschaft.
Auch Sergio Cabreras „Die Strategie der Schnecke“ („La Estrategia del Caracol“) zeigt voller Witz und Charme, wie sich Menschen fröhlich, intensiv und phantasievoll gegen Willkür wehren. Ein neureicher Yuppie versucht, die Bewohner eines alten Hauses in Bogotá zu „entmieten“ und auf die Straße zu setzen. Doch der alte Anarchist Jacinto, der nicht zugelassene Anwalt Romero, ein junger Revolutionär, ein alter Pater und andere nutzen ihre letzte Chance. Jacinto entwickelt einen genialen Plan, die Zeit bis zum Rauswurf zu nutzen: die Strategie der Schnecke. Im spanischsprachigen Raum wurde der Film zum absoluten Publikumsliebling, für Gabriel García Márquez ist er der beste Spiegel Kolumbiens in seiner gesamten Filmgeschichte. Ein poetischer und politischer Film, der das reale Bogotá zeigt – mit einer Schönheit, die aus seinen Widersprüchen, seinem Elend und seinem menschlichen Reichtum kommt.
Die vierte anarchische Liebeserklärung kommt aus Kuba. Benito Zambranos „Havanna Blues“ zeigt den musikalischen Reichtum der „Perle der Karibik“ jenseits von „Buena Vista Social Club“ – eine junge, pulsierende Szene, die rappt, rockt und jammt. Ruy und Tito träumen vom musikalischen Durchbruch, ihre Band spielt die neue Musik des „anderen Kuba“. Das Wohnzimmer der Großmutter wird zum Studio, die Aufnahme des Demo-Tapes und die Vorbereitung des ersten Konzerts werden zum zeitraubenden Abenteuer – Improvisation für das tägliche Überleben.
ROBERT MATTHIES