: Ein Bär fährt Damenrad
Ingo Schulze zaubert in seinem neuen Buch „Handy“ Fantastisches in die Realität und verführt durch die große Kunst des Humors und der feinen Selbstironie. Vergnügt glaubt man ihm alles und staunt
VON DIRK KNIPPHALS
An einer Stelle dieses Bandes kommt ein Bär vor, der auf einem Damenfahrrad in den Wald flüchtet. Was man wissen muss: Es handelt sich durchaus um eine realistische Erzählung.
Sie geht folgendermaßen: Ein deutscher Schriftsteller und seine Frau reisen nach Estland. Durch verwickelte Umstände werden sie Zeugen, wie finnische Geschäftsleute einen Bären jagen wollen. Da kein passender Bär durch die Wälder streunt, wird für sie heimlich einem maroden russischen Zirkus ein Exemplar namens Serjosha abgekauft. Und das krallt sich im entscheidenden Moment das am Wegrand liegende Fahrrad einer Blaubeeren sammelnden Dame. „Er schien häufig von den Pedalen abzurutschen, alle paar Meter glaubte ich, er würde umkippen oder über den Lenker fliegen. Doch das lag eher an dem Waldboden. Serjosha saß auf dem Sattel und strampelte, was das Zeug hielt.“
Es ist etwas billig zu versichern, dass ich beim ersten Lesen der Geschichte „In Estland, auf dem Lande“ vor Lachen vom Sofa fiel. Aber man möchte unbedingt davon Zeugnis ablegen, wie komisch viele Episoden in Ingo Schulzes morgen erscheinendem Geschichtenband „Handy“ aufgeschrieben sind. Die Pointe zu verraten traut man sich deshalb, weil auch bei der zweiten und dritten Lektüre die Komik hält. Mehr noch, das eigentliche Vergnügen setzt erst auf der zweiten Ebene ein. Sie besteht darin nachzuvollziehen, wie sorgfältig, geradezu liebevoll die einzelnen Erzählungen gebaut sind.
Unglaubwürdige Episoden vermag Ingo Schulze ebenso zu beglaubigen wie alltägliche Situationen in ein neues Licht zu rücken. Gelegentlich verhält er sich wie ein selbstironischer Zauberkünstler; er zeigt seine leeren Hände vor, weist selbst auf die Wendungen und Tricks hin und hat einen dann doch, man weiß nicht recht wie, ins Geschehen hineingezogen.
„Handy“ enthält einige Gelegenheitsarbeiten. Zwei, drei Erzählungen verbleiben im Status der Fingerübung. Aber dieser Band ist unbedingt mehr als eine Zugabe zu dem vor eineinhalb Jahren erschienenen 800-Seiten-Wenderoman-Monument „Neue Leben“. Was für ein listiger Erzähler Ingo Schulze ist, kann man hier – neben der Komik – nur bestaunen. Nichts an dieser Prosa wirkt gewollt. Oft führt Schulze Erzählerfiguren ein, die auf den ersten Blick viel mit dem realen Autor gemein haben, manchmal sogar den Namen, und verwendet sie als Spiegelungen. Wer will, kann so ganz nebenbei einen Blick in die Werkstatt dieses Autors werfen.
Seine erzählerische Fantasie setzt oft ein, wenn er eine Figurenkonstellation mit einem Ort in Beziehung setzen kann. So ist das in „Zwischenfall in Kairo“. Man weiß die ganze Zeit über nicht recht, ob die Eifersuchtsanfälle des Erzählers (der wie der reale Ingo Schulze ein Buch mit dem Titel „Simple Storys“ geschrieben hat) auf seine Freundin nun auf die Fremdheitsgefühle im Alltags Ägyptens antworten oder umgekehrt. Oder ob beides nur der Reflex der Fieber auslösenden Infektion ist, die der Erzähler sich „da unten“, wie es gleich im ersten Satz heißt, „eingefangen hat“. Eine hübsche Satire auf die Wirklichkeit des Kulturaustausches, die Schriftsteller auf Kongresse durch die Welt schickt, ist die Erzählung außerdem.
Die Fertigkeit, die große Geschichte im Rücken alltäglicher Beziehungskonstellationen ablaufen zu lassen, führt Ingo Schulze geradezu klassisch in der Erzählung „Die Verwirrungen der Silvesternacht“ vor. Die Liebesprobleme laufen im Vordergrund, dahinter entrollen sich, immer an konkreten Details festgemacht und vielfältig verknüpft, die welthistorischen Ereignisse von Demonstrationen, dann Wende, dann neuem Alltag im vereinigten Deutschland.
Die allerschönste Geschichte aber heißt ausgerechnet „Keine Literatur oder Epiphanie am Sonntagabend“. Auf gerade einmal sechs Seiten und nur mit einem plappernden Kind und einem Stück Orangenschale, über das Ameisen laufen, als Requisiten vermag Ingo Schulze so etwas Schwieriges wie Weltfrömmigkeit zu beglaubigen: „Beide betrachteten wir die Orangenschale und mit ihr das Wunder, dass es die Orangenschale und uns und alle und alles gab, das ganze Wunder eben. Mehr gibt es nicht zu sagen, verlangen Sie keine Erläuterungen.“ Dass solche Sätze kein Kitsch werden, ist das eigentliche Wunder dieser Erzählung. Ingo Schulze versteht sich – große Kunst! – eben auf die dezenten und selbstironischen Tonlagen.
Dabei besticht dieser Band vor allem durch seine Ungezwungenheit. „Es ist wirklich merkwürdig. Obwohl ich mein Geld mit Beobachtungen und der Beschreibung von Situationen und Gefühlen verdiene, empfinde ich mich im Vergleich zu Tanja als geradezu taub und stumpfsinnig“, überlegt sich einer der Ich-Erzähler an einer anderen Stelle, Tanja ist seine Frau. Hinter solchen unscheinbaren Bemerkungen verbirgt sich eine ganze Poetik. Der Taubheit durch Beobachtung und Beschreibung entkommen – ein Bär, der sich auf einem Damenfahrrad in die Büsche schlägt, das ist kein schlechtes Bild für diese Literatur.
Ingo Schulze: „Handy. Dreizehn Geschichten in alter Manier“. Berlin Verlag, Berlin 2007. 282 Seiten, 18 €