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Archiv-Artikel

Das menschliche Maß

AUS NEUSS HEIKE HAARHOFF

Bremen, 4. 1.: Laut rechtsmedizinischem Gutachten hat Kevin aus Bremen während seines Lebens 24 Knochenbrüche an 19 Körperstellen erlitten. Die verweste Leiche des Zweijährigen war im Oktober im Kühlschrank seines drogensüchtigen Ziehvaters gefunden worden. (AP)

In einer baumbestandenen Eigenheimsiedlung im rheinischen Neuss öffnet eine alte Dame zögerlich die Tür. Ihr Name ist Elisabeth Trube-Becker, im Januar ist sie 88 Jahre alt geworden. Man möchte mit ihr reden über Kindesmisshandlungen in Deutschland. „Ach“, sagt sie, „ich habe mir den Mund fusselig geredet darüber in meinen Vorträgen vor Kinderärzten, vor Studenten, vor Eltern.“ Sie klingt ein wenig unwirsch.

Elisabeth Trube-Becker. Die erste Professorin für Rechtsmedizin in Deutschland. Geboren 1919, Promotion 1942, Habilitation 1951. Seither obduzierend, begutachtend, forschend, publizierend. Es ist kein Zufall, dass man sie ausgerechnet jetzt aufsucht, zu Beginn dieses Jahres, in dem schon mehr Fälle misshandelter Kinder öffentlich wurden oder vor Gericht verhandelt werden, als es Kalenderwochen gibt. Voneinander unterscheidbar scheinbar nur noch in den Nuancen – geprügelt, gebrandmarkt, geschüttelt, erstickt, stranguliert, gefesselt, tiefgefroren. Für manches Leid fehlen selbst dem Duden die Wörter.

Großenkneten, 7. 1.: Ein dreijähriges Mädchen aus Großenkneten ist nach Angaben der Staatsanwaltschaft vom Lebensgefährten der Mutter nicht nur schwer verletzt, sondern anscheinend auch sexuell missbraucht worden. (AP)

Gewalt gegen Kinder, körperliche, seelische, verbale, sexuelle Gewalt, ausgeübt zumeist durch Eltern oder andere Familienangehörige, ist Elisabeth Trube-Beckers Lebensthema. Die wissenschaftlichen Standardwerke in Deutschland dazu tragen ihren Namen. „Und was hat es gebracht?“ Sie guckt einen herausfordernd an und antwortet dann selbst: „Wenn ich vielleicht ein oder zwei Menschen davon abgebracht habe, solche Untaten zu begehen, dann hat es sich schon gelohnt.“

Sie sagt das weder zynisch noch verzweifelt. Zumindest, erklärt sie, habe sich seit Kriegsende in Deutschland, seit der Zeit, da sie sich als Ärztin den gequälten Kindern praktisch wie wissenschaftlich widmet, die Lage nicht dramatisch verschlechtert. Häufigkeit, Art und Ausmaß der Gewalt seien relativ konstant geblieben. Und auch die Hemmschwelle sei bei den Eltern nicht etwa gesunken, wie derzeit suggeriert werde: „Der Mensch ist im Laufe der Jahre nicht besser oder schlechter geworden. Der Mensch bleibt sich gleich.“

Rostock, 12. 1.: Weil sie ihre kleine Tochter jahrelang mit Essig und Kalkreiniger schwer misshandelt hat, muss eine Mutter aus Mecklenburg-Vorpommern für neun Jahre ins Gefängnis. Zudem habe die Frau das Kind mit heißem Wasser verbrüht, um Geld von einer Unfallversicherung zu erhalten. (AP)

Der Mensch bleibt sich gleich. Das macht die Sache insgesamt weder besser noch irgendeine Einzeltat entschuldbar. Aber es hilft, in der Debatte über misshandelte Kinder und überforderte Eltern nicht das Maß zu verlieren. Elisabeth Trube-Becker ist eine Frau, die sich ihre Aussagen sehr genau überlegt. Natürlich ist ein Satz wie „Der Mensch bleibt sich gleich“ in ihrem Fachgebiet ein Wagnis. Würde er sich als falsch erweisen, ihre in Jahrzehnten erworbene Reputation wäre gefährdet.

Bei kaum einem anderen Delikt gibt es eine so hohe Dunkelziffer wie bei Kindesmisshandlungen, nirgendwo wird so viel gelogen. Die Angaben über ihre Häufigkeit sind zu einem beliebten Spekulationsobjekt der verschiedensten Autoren geworden. Ohnehin wird nur ein verschwindend geringer Prozentsatz der Kindesmisshandlungen bekannt, zur Kenntnis der Ermittlungsbehörden gelangt ein noch kleinerer Prozentsatz, und im Gericht aufgeklärt werden nur noch Einzelfälle.

Die aktuellste Schätzung gab das Düsseldorfer Familienministerium zu Jahresanfang bekannt: Jährlich würden rund 100 Kinder in Deutschland „zu Tode misshandelt“. Die meisten seien unter vier Jahre alt, 95 Prozent würden in ihrer Familie getötet. Zahlen, die mit Vorsicht zu verwenden sind.

Mainz, 17. 1.: Wegen schwerer Misshandlung seiner Kinder muss ein türkischer Familienvater nach 17 Jahren Deutschland verlassen. Dies entschied das Verwaltungsgericht Mainz. Der Mann hatte den Sohn mit einem Besenstiel auf den Rücken geschlagen, bis der Stiel zerbrach. Die Tochter schlug er bewusstlos und schädigte dauerhaft die Sehkraft des Auges. Der Mann hatte gegen die Ausweisung geklagt. Er gab an, die Kinder hätten gelogen. („Süddeutsche Zeitung“)

Elisabeth Trube-Becker dagegen kann zumindest plausible Einschätzungen abgeben. Sie hat seit den 40er-Jahren alles gesehen, was zum gewaltsamen Kindestod geführt hat. Striemen, Bissspuren, Blutergüsse, Knochenbrüche. Die Fälle hat sie als Professorin an der Universität Düsseldorf gesammelt, archiviert, schematisiert. Unabhängig davon, wie sie sagt, ob sich die Medien zufällig gerade für gequälte Kinder interessierten. „So wie zurzeit“, sagt sie. „Da gibt es ein oder zwei spektakuläre Fälle, und schon wird über ähnliche Fälle intensiv berichtet – über einen gewissen Zeitraum.“ Als sei eine Gesellschaft komplett aus den Fugen geraten.

Berlin, 20. 1.: Unter dem Verdacht der Kindesmisshandlung und Körperverletzung ist ein 33-jähriger Mann in Berlin-Neukölln festgenommen worden. Seine 28 Jahre alte Lebensgefährtin sagte nach Polizeiangaben, dass er sie und ihre sechsjährige Tochter mehrfach misshandelt habe, unter anderem mit einem Stromkabel. („Die Welt“)

Elisabeth Trube-Becker war 29 Jahre alt, als sie 1948 am Institut für Rechtsmedizin in Düsseldorf anfing. Ihre Motivation war eher zufällig: „Ich wollte irgendetwas Besonderes innerhalb der Medizin machen.“ Ahnungslos, erzählt sie, sei sie gewesen, „dass es Kinder gibt, die man so verprügelte, dass man Spuren sah.“ Bei ihr zu Hause hatte es das nicht gegeben, im Studium während der NS-Diktatur existierten prügelnde Eltern nicht. Nach dem Krieg fielen sie auch nicht auf. Wurden Kinder beispielsweise extrem abgemagert ins Krankenhaus eingeliefert, dann wurde eher nach einer Krankheit gefahndet als innerhalb der Familie. Kinder galten als Eigentum ihrer Eltern, und eine Tracht Prügel hatte noch niemandem geschadet: „Das war das gesellschaftliche Bild der Zeit.“

Berlin, 28. 1.: Diese Woche werden im Berliner Kriminalgericht Prozesse gegen drei Mütter verhandelt, die ihre Kinder verwahrlosen ließen und misshandelt haben sollen. Eine der Angeklagten habe dem Vierjährigen ein starkes Medikament eingeflößt, um ihn ruhigzustellen. Dann soll sie mit Schlägen, Kaffee und kalten Duschen versucht haben, den Jungen wach zu kriegen. (dpa)

Elisabeth Trube-Becker hat anfangs nicht aktiv nach solchen Fällen gesucht. Nicht aus Faulheit, sondern weil ihre Vorstellungskraft so weit nicht ging. Unfreiwillig wurde sie zur Expertin. „Das erste Kind, das mir den Schubs gab, mich damit zu befassen, kam als Leiche“, sagt sie. Es war ein Junge, übersät mit Striemen, Blutergüssen, Bissspuren, sie wird sein Bild nicht los. „Bissspuren“, sagt sie, „ich dachte, das gibt es nicht, dass jemand sein Kind beißt.“

Es gab dann noch sehr viel mehr. Elisabeth Trube-Becker mag sich nicht auf die Tragik des Einzelfalls beschränken. Ende der 40er-Jahre setzt sie durch, dass augenscheinlich misshandelte Kinder nicht länger in Friedhofshallen oder Krankensälen obduziert werden, sondern zentral im Rechtsmedizinischen Institut, wo die Fälle dokumentiert werden. Anfang der 50er-Jahre erreicht sie, dass grundsätzlich alle Kinder mit ungeklärter Todesursache der Rechtsmedizin überantwortet werden. „Die behandelnden Ärzte hatten einfach zu viel übersehen“, sagt sie kühl. Sie startet eine Aufklärungskampagne bei Kinderärzten, in Kliniken, in den Hörsälen. Und erntet Kritik. „Wo haben Sie denn Ihre Fälle zusammengeklaubt?“, fährt sie eine wütende Studentin in den 60er-Jahren während einer Vorlesung an.

„Ich hatte bloß immer akribischer untersucht“, sagt Elisabeth Trube-Becker. Sie klingt noch heute, als müsse sie sich gegen den Vorwurf verteidigen, sie steigere sich da in etwas hinein. Viele Verletzungen, sagt sie, seien jahrelang übersehen worden, weil es schlicht an der Diagnostik mangelte. Strommarken beispielsweise sind auch auf den vierten Blick oft nicht zu erkennen. „Man muss wissen, wonach man sucht.“ Auch das Schütteltrauma, eine häufige Folge der Misshandlung von Kleinstkindern, wird erst 1974 von der Rechtsmedizin beschrieben. Blutungen im Schädelinneren, die durch heftiges Schütteln oder Schlagen entstehen, waren bis dahin unentdeckt geblieben; die Kinder wurden zu Opfern des plötzlichen Kindstods deklariert. Denn äußerlich ist das Schütteln nicht nachzuweisen.

München, 9. 2.: Ein 36 Jahre alter Vater ist wegen Misshandlung seines zwei Monate alten Sohnes zu dreieinhalb Jahren Haft verurteilt worden. Der arbeitslose Brückentechniker hatte in drei Fällen den Säugling aus dem Bettchen gerissen oder heftig geschüttelt. Das Baby erlitt lebensgefährliche Hirnblutungen und 24 Knochenbrüche. (dpa)

„Heute“, sagt Elisabeth Trube-Becker, „gibt es vermeintlich mehr Fälle – weil glücklicherweise mehr erkannt wird.“ Auch seien Ärzte und Bevölkerung stärker sensibilisiert. „Die Anlässe, die zur Eskalation führen, sind häufig banal“, sagt sie. Die Tochter habe zu viel geschrien. Nie wollte der Sohn still sein, wenn der Vater Fußball guckte. Sie habe sich mit der Situation überfordert gefühlt. Er habe sein Stiefkind nicht annehmen können. Sie habe sich gegen ihren Mann nicht wehren können, da habe sie das Kind geschlagen. Es tue ihnen leid. Elisabeth Trube-Becker weiß nicht, wie viele Male sie diese Sätze vor Gericht gehört hat. „Die wenigsten“, sagt sie, „handeln in bewusster Tötungsabsicht, auch die sadistische Komponente spielt eine geringe Rolle.“

Es war nie Elisabeth Trube-Beckers Job, über die Eltern zu richten. Akzeptiert hat sie keine der Rechtfertigungen. „Ich hatte selbst sieben Kinder, zwei eigene und fünf Stiefkinder, ich kenne die Schwierigkeit der unterschiedlichen Rollen, ich weiß, wie es ist, berufstätig zu sein und nachts nicht eine Viertelstunde am Stück zu schlafen.“ Bei aller Abneigung gegen die Täter – auseinandersetzen musste sie sich mit ihnen. Sie absolvierte einen Amtsarztkurs in Psychiatrie, sie ließ sich zur Psychotherapeutin ausbilden. Versuche, die Schuld an der Tat anderen, äußeren Faktoren zuzuschieben, lehnt sie ab. Heute sagt sie: „Vielleicht ist es nicht so sehr eine Frage der Überforderung, sondern eine der Mentalität, ob man sich hinreißen lässt, ein Kind so zu verdreschen, dass es stirbt.“

Zwickau, 9. 2.: Im Prozess um den Tod des vierjährigen Mehmet hat die Mutter gestanden, der Junge sei von seinem Stiefvater monatelang schwer misshandelt worden, ohne dass sie dagegen etwas unternommen habe. Mehmet sei mit einem Strick nachts immer wieder an sein Bett gefesselt worden. Der arbeitslose Dreher klebte dem Kind demnach auch den Mund mit einem Klebestreifen zu. (Reuters)

Wer einwendet, dass die Gewalt häufig mit sozioökonomischen Notlagen einhergehe, den unterbricht sie: „Es ist ein großer Blödsinn, zu glauben, Misshandlungen gebe es nur in der Unterschicht.“ Im Gegenteil, wer wohlhabend und gebildet sei, misshandle sein Kind nicht weniger häufig als etwa ein Hilfsarbeiter. Allenfalls anders. Weniger Spuren hinterlassend. Perfider. „Um einem Kind Stromschläge zu versetzen, bedarf es einer gewissen Intelligenz.“ Dass die öffentliche Wahrnehmung eine andere sei, erklärt sie so: „Diese Eltern aus den Villenvierteln treten weniger in Erscheinung, weil sie nicht so stark im Fokus der Jugendämter stehen und sich besser zu wehren wissen. Versuchen Sie doch mal, einen Rechtsanwalt zu verklagen!“

Verden, 9. 2.: Laut Anklage sollen die Kinder vor allem von der Stiefmutter misshandelt worden sein. Den heute 13 und 15 Jahre alten Kindern wurden mehrfach Verbrennungen mit einem Bügeleisen zugefügt. (dpa)

Im rheinischen Neuss schließt Elisabeth Trube-Becker die Tür. Sie hat ihren Umgang mit der nicht enden wollenden Gewalt gegen Kinder gefunden. „Man muss sich“, sagt sie zum Abschied, „von den Fällen absentieren.“