Die Verachtung für das Verstehen

Gesellschaften im Krieg entwickeln eine Kriegspsychose, und Gesellschaften im Dauerkonflikt entwickeln eine totale Kriegspsychose. Da gibt es nur Schwarz oder Weiß. Entweder dafür oder dagegen. Entweder für „unsere“ Seite oder Verräter. Was wir heute aber immer häufiger erleben, ist die globale mediale Infektion. Gibt’s einen Konflikt, dann bilden sich die Fansektoren, in sicherer Entfernung, aber paranoid und kriegsirre, als wären sie mittendrin. Wie die Ultras aus der Südkurve feuern sie ihr bevorzugtes Team an, rufen ihm zu: „Haut sie [also die anderen] nieder!“

Wie sehr sich im aktuellen Konflikt etwa die Pro-Israel-Fanatiker auf der einen und die Anti-Israel-Fanatiker (Letztere oft mit mehr als nur einer Prise Antisemitismus) gleichen: beide verbohrt in ihrem Tunnelblick, gefangen in einer Wahnwelt, stur entschieden, nur die Partialwahrheit der einen Seite zu sehen, fest entschlossen, jeden, der das eigene eindimensionale Bild infrage stellt, als Feind zu sehen. Überhaupt diese bizarre Lust der Feinderklärung! Selbstgerechtigkeit, die natürlich logisch aus dem Tunnelblick folgt: If you live in a myth, everything looks like a supporting fact, wie die Briten sagen. Wenn du in einer Wahnwelt lebst, schaut alles aus wie ein bestätigendes Indiz.

Dazu gehört unbedingt, dass nicht nur die Gegner selbst – also die „Feinde“ und deren Fankurve – niedergemacht werden, sondern alle, die auch nur eine eigenständige Position vertreten (also beispielsweise Krieg scheiße finden und Bombardieren kontraproduktiv für eine etwaige Konfliktlösung). Die schönen technologischen Möglichkeiten, die die moderne Welt der asozialen Netzwerke mit ihren Shitstormtools bietet, leisten da gute Dienste. Wobei das schon unpräzise formuliert ist: Die sozialen Netzwerke, ihr Mechanismus wechselseitiger Bestärkung und ihre Aufschaukelungs- und Erpressungslogik („für oder gegen uns?“) sind nicht bloß Instrument, sondern konstitutiv für dieses Setting.

Nicht nur rund um den Gazakonflikt, auch rund um den Ukraine-Russland-Konflikt haben wir das in den vergangenen Monaten erlebt. Das frisst sich bis in die Sprache hinein. Neue Schimpfworte werden kreiert: etwa das des „Verstehers“. Verächtlich wurde von „Putinverstehern“ gesprochen, jetzt von den „Paliverstehern“ beziehungsweise – andersrum, wenn auch seltener – von den „Bibiverstehern“.

Das muss man sich erst einmal auf der Zunge zergehen lassen: Empathie, die Fähigkeit, auch den anderen zu verstehen, neben der eigenen Logik eine andere Logik wenn schon nicht teilen, dann immerhin nachvollziehen zu können, wurde gemeinhin bisher doch immer als Stärke, als positive Charaktereigenschaft ausgelegt.

Den anderen zu verstehen ist ja sogar für Konfliktparteien unumgänglich – wer den Gegner nicht versteht, der wird von seinen künftigen Zügen stets überrascht sein, das wusste schon Machiavelli. Noch notwendiger ist das Verstehen der anderen, will man etwa Konflikte diplomatisch entschärfen, da muss man sensibel verstehen, bis man irgendwann vielleicht ein gemeinsames Verständnis herbeidiplomatisiert hat. Aber Diplomatie ist, aus der Perspektive der Versteherverachter, die sich auf ihr Gar-nichts-Verstehen so viel einbilden, ohnehin nur etwas für unmoralische Weicheier.

„Nach Gutmensch und Opfer wurde nun also auch Versteher zum Schimpfwort“, schreibt der Wiener Aktivist und Blogger Philipp Sonderegger. „Zwischentöne, Mehrdeutigkeit und unterschiedliche Perspektiven“, sind den Versteherverächtern ein Gräuel.

Eine andere Wendung, die unter kriegsgeilen Kiebitzen gerade sehr en vogue ist, ist der Vorwurf, der jeweils andere messe mit „zweierlei Maß“. Die Israelfans werfen das den Israelkritikern vor (weil die Hamas ja noch viel schlimmer ist als die israelische Regierung) und die Israelkritikern den Israelfans (sie kritisieren wiederum, dass denen palästinensische Opfer viel weniger wert wären als israelische Opfer).

Dabei messen wir doch immer mit zweierlei Maß, und zwar oft aus guten Gründen: Ich beurteile unmoralisches Verhalten mir Nahestehender strenger als das mir vollkommen Fremder. Menschenrechtsverletzungen freiheitlicher Demokratien empören mich mehr als die von Despotien, weil ich sie mit dem Maß messe, das sie selbst anlegen und das ich mit ihnen teile. Da Umstände sich nie völlig gleichen, ist es sogar nötig, mit mehrerlei Maß zu messen.

Alles, was man fürs Verstehen braucht, ist ein bisschen Verstand. Ich, beispielsweise, bemühe mich sogar, die Gar-nichts-Versteher und ihren Wahn und Tunnelblick zu verstehen. Es ist gar nicht so schwierig, wenn man erst einmal damit angefangen hat.

ROBERT MISIK