Ein später Welterfolg für Anna und Otto Quangel

WIDERSTAND Über Umwege kommt ein Klassiker nach Deutschland zurück: Hans Falladas „Jeder stirbt für sich allein“

■  Leben: Rudolf Ditzen wird am 21. Juli 1893 als Sohn eines Richters in Greifswald geboren. Als Gymnasiast erleidet er 1911 bei einem als Duell getarnten Doppelselbstmord schwere Verletzungen, der Freund kommt um. Ditzen kommt 1912 erstmals in eine Nervenheilanstalt. Im Jahr 1917 folgt die erste mehrerer Drogenentziehungskuren. Um seine Alkohol- und Drogensucht zu finanzieren, begeht er in den folgenden Jahren Betrugsdelikte und landet mehrfach im Gefängnis.

■  Werk: Rudolf Ditzen legt sich 1920 das Pseudonym Hans Fallada zu und veröffentlicht seinen ersten Roman „Der junge Goedeschal“. Mit „Kleiner Mann – was nun?“ gelingt Fallada 1932 der schriftstellerische Durchbruch. Unter den Nazis wird Fallada geduldet, gilt allerdings als „unerwünscht“. 1946 schreibt er in vier Wochen „Jeder stirbt für sich allein“, der Roman erscheint 1947 im Ostberliner Aufbau Verlag. Am 5. Februar 1947 stirbt Hans Fallada in Berlin. 1950 erscheint postum „Der Trinker“.

VON STEFAN MAHLKE

Ein ganz neues Buch ist es nicht. Vor 64 Jahren erschien Hans Falladas Roman „Jeder stirbt für sich allein“ zum ersten Mal. Dass man das Buch jetzt noch einmal neu entdecken kann, ist eine schöne Sache – und das Ergebnis einer leicht verwickelten Geschichte.

Sie beginnt natürlich mit der Entstehung des Buches selbst. Fallada hatte nach dem Zweiten Weltkrieg Einsicht in Gestapo-Akten bekommen. In den Akten stieß er auf das Berliner Ehepaar Hampel. Deren einziger Sohn stirbt im Frankreichfeldzug, die Hampels entschließen sich zum Widerstand gegen die Nazis. An verschiedenen Orten in Berlin legen die beiden Postkarten ab, die vor dem Hitlerregime warnen. Nach zwei Jahren werden sie von der Gestapo gefasst, er wird hingerichtet, sie stirbt bei einem alliierten Bombenangriff im Gefängnis. Der Roman über den Widerstand der kleinen Leute fand in beiden deutschen Staaten sein Publikum. Über die Jahre aber wurde es ruhiger um Falladas Werke. Warum also jetzt eine Neuausgabe?

Dennis Johnson brachte die Sache ins Rollen. Der Leiter des kleinen unabhängigen US-Verlags Melville House fragte vor Jahren eine Freundin, was sie gerade lese. Diane von Fürstenberg, eine belgische Modemacherin, erzählte ihm sofort von Falladas „Jeder stirbt für sich allein“. Daheim in New York, machte sich Johnson in unzähligen Antiquariaten auf die Suche nach Büchern von Fallada. Er fand den „Trinker“, las es – und war sofort hingerissen.

„Jeder stirbt für sich allein“ war aber nie ins Englische übersetzt worden war. Als Johnson erfuhr, wer die Rechte besaß, flog er nach Berlin. Beim Aufbau Verlag sei man ziemlich überrascht gewesen, hört man. Schon lange nicht mehr habe sich jemand aus dem Ausland für Fallada interessiert. Zur gleichen Zeit wurde Adam Freudenheim vom britischen Großverlag Penguin Books auf Falladas Roman aufmerksam. Johnson aber machte das Rennen, er erwarb die Rechte an vier Romanen. Der Preis war moderat, Johnson nannte es später einen „unfassbaren Deal“. Die Rechte in der Tasche, beauftragte er (auf Vermittlung von Freudenheim) den preisgekrönten Übersetzer Michael Hofmann, „Jeder stirbt für sich allein“ ins Englische zu übertragen.

2009 kam „Every Man Dies Alone“ in den USA, 2010 „Alone in Berlin“ in Großbritannien heraus. Beide Ausgaben wurden schnell zu Verkaufserfolgen. Als Penguin die Taschenbuchausgabe in Tankstellen und Supermärkten platzierte – Fallada war jetzt neben Stephenie Meyers und Stig Larsson zu finden –, ließ das die Zahlen durch die Decke gehen. Inzwischen sind in den USA 200.000, in Großbritannien über 300.000, in Frankreich etwa 100.000 Exemplare (seit 2002) verkauft worden. In Israel ist Falladas Roman mit über 100.000 verkauften Stück ein absoluter Topseller. Dort soll sogar eine regelrechte Fallada-Manie ausgebrochen sein. Weltweit hat sich der Roman 750.000 Mal verkauft – ein kolossales Einspielergebnis für das Werk eines fast vergessenen Autors.

Vergessen? Vor dem Zweiten Weltkrieg war Fallada auch international kein Unbekannter. Bis 1939 sind mehrere Werke in englischer Sprache erschienen. Der Roman „Kleiner Mann – was nun?“ wurde sogar 1934 von Universal Pictures verfilmt. Erst der Krieg hat Fallada von seiner englischsprachigen Leserschaft abgeschnitten.

Falladas Comeback hat mehrere Gründe: Zum einen gehen Hitler und die Nazizeit eigentlich immer. Dann die sehr gute Übersetzung. Auch könne das Thema Widerstand gegen den Faschismus in der anglofonen Welt auf ein großes Publikum zählen, meint die Fallada-Biografin Jenny Williams. Ein genialer Coup sei auch der Titel gewesen: „Alone in Berlin“. Berlin sei zurzeit in, einfach aufregend, sexy, kribbelig. Und der Roman schildere den Alltag der einfachen Leute unter den Nazis, für englische Leser sei das ziemlich neu.

Fallada selbst glaubte anfangs nicht an einen Erfolg: „wegen der völligen Trostlosigkeit des Stoffes: zwei ältere Leute, ein von vornherein aussichtsloser Kampf, Verbitterung, Hass, Gemeinheit, kein Hochschwung“.

Er schrieb ihn dann aber doch. Vielleicht weil er sah, dass diese Geschichte aus finsterer Zeit doch ins Helle zu drehen ist. In knapp vier Wochen stellte er den Roman fertig – und war selbst begeistert, „endlich wieder ein echter Fallada“.

Das Buch ist großartig – vor allem solange Fallada noch das ganze Personal beisammen hat

Das Buch ist großartig – vor allem solange Fallada noch das ganze Personal beisammen hat. Da gibt’s die Quangels, die bis zum Tod ihres einzigen Sohns „anständige“ Mitläufer sind. Da gibt’s den Gestapo-Kommissar Escherich, der mit Leidenschaft seiner Arbeit nachgeht, egal unter wem. Wir treffen auf stramme Nazis, auf Kleinkriminelle wie Barkhausen, der noch in jeder Situation seinen Schnitt zu machen versucht, auf die Briefträgerin Kluge, die Jüdin Rosenthal, den Kammergerichtsrat a. D. Fromm. Und andere. Sie alle sind verknüpft miteinander und haben doch auch ihr Eigenleben. Für jede Figur hat Fallada einen eigenen Ton. So entstehen fast brechtsche Szenen aus dem „Dritten Reich“.

Allgegenwärtig ist die Angst davor, denunziert zu werden und ins KZ zu kommen. Gezeigt wird aber auch der Mut Einzelner, sich dem allmächtigen System des Terrors zu widersetzen. In der naiven Hoffnung, dass ihre Postkarten etwas bewirken, schwingen sich Anna und Otto Quangel heraus aus der Tristesse ihres Mitläuferdaseins. Lebten sie zuvor eher schweigend fast nebeneinander her, so finden sie in ihren Aktionen zueinander: Es ist die Geburt der Liebe aus dem Geist des Widerstands.

Je bedrängter Anna und Otto Quangel sind, umso stärker wird ihre Liebe. So beim Prozess, wo sie sich zum letzten Mal sehen, so im Gefängnis, wo jeder sich um den anderen Sorgen macht. Fallada hat wahrscheinlich nur einen Teil der Prozessakten gesehen. So konnte er nicht wissen, dass die Hampels sich zuletzt gegenseitig bezichtigten. Vermutlich hätte er auch im Wissen um dieses trostlose Ende seinen Roman nicht anders ausgehen lassen. Er wollte mit ihm ins Licht. Der Roman ist eine große Geschichte des Widerstands und der Liebe. Zugleich ist er Thriller und Berlin-Roman. Genug Gründe, um seine Leser zu finden.

Die neue Ausgabe greift auf das Typoskript zurück, das dem Druck der Erstausgabe von 1947 zugrunde lag. Aufgehoben wurden die verlegerischen Eingriffe von 1947. Der damalige Lektor Paul Wiegler hatte zwar die meisten „Hinweise“ der bestellten Gutachten ignoriert und seinen Autor geschützt. Dennoch wurde geglättet. Aus einer „kommunistischen Widerstandszelle“ wurde eine „Widerstandszelle“, weil sich Beteiligte nicht kommunistengerecht verhielten. Aus „euerm Scheißkrieg“ machte man „euerm elenden Krieg“. Gänzlich neu ist das 17. Kapitel. Es wurde 1947 fast vollständig gestrichen, weil Anna Quangel, die sonst eher als zurückhaltende Person beschrieben wird, sich hier schlau und frech als stramme Nationalsozialistin ausgibt, um ihren kleinen Posten bei der NS-Frauenschaft wieder loszuwerden. Von politischer Zensur ist hier nicht zu reden, zumal es einen Text letzter Hand nicht gibt. Im Originalzustand ist der Text aber rauer, authentischer. Es ist ein anderes, aber nicht ganz anderes Buch.

Hans Fallada: „Jeder stirbt für sich allein“. Aufbau, Berlin 2011, 704 Seiten, 19,95 Euro