: Das Weltreich in Farbe
AUFNAHMEN Kolorierte Familienfotos, Tolstoi unter Bäumen, Stalin im roten Blumenmeer: In London ist eine große Ausstellung über die Farbfotografie in Russland zu sehen
VON BRIGITTE WERNEBURG
Spätestens bei den Tatarinnen, die ein anonymer Fotograf um das Jahr 1910 aufnahm, wird man sich des Werts der frühen Versuche mit Farbfotografie bewusst. Nur sie gibt eine Ahnung vom wundervollen Glanz der erdig-leuchtenden Naturfarben ihrer prachtvollen Gewänder. „Primrose: Early Colour Photography in Russia“, die von Olga Sviblova, der Direktorin des Multimedia Art Museum Moskau, kuratierte Ausstellung, die gerade in der Photographers’ Gallery in London eröffnet hat, zeigt ein ungemein frisches Bild des Zarenreiches, aber auch der Sowjetzeit bis 1980. Und doch lässt sie einen, trotz all ihres fraglosen Reichtums an Bildern und Techniken, am Ende ratlos zurück. Denn sie bleibt merkwürdig kontextlos und opak.
Polemisch gesagt ist „Primrose“ eine sehr russische Angelegenheit, insofern Information möglichst zurückgehalten wird. Es gibt keinen Katalog, und die notwendigerweise kurz und allgemein gehaltenen Wandtexte geben über die ausgestellten Fotografen wie deren Auftraggeber ebenso wenig Auskunft, wie sie den Kontext der jeweiligen zeitgeschichtlichen Ereignisse erklären. Dabei entstanden die gezeigten über 140 Aufnahmen in Zeiten einschneidender politischer, sozialer, ökonomischer und kultureller Veränderungen, angefangen in den 1860er Jahren mit der sogenannten großen Reform des Zaren Alexander II. über den Ersten Weltkrieg, die Oktoberrevolution, den Stalinismus, den Zweiten Weltkrieg und das nachfolgende Chruschtschow’sche Tauwetter bis knapp zum Beginn der Gorbatschow’schen Perestroika.
Wie in Europa überhaupt wurde die Farbe in der Fotografie auch in Russland um 1860 erstmals richtig populär, wobei die Abzüge von Hand mit Wasser- oder Ölfarben koloriert wurden. Besonders beliebt war dieses Verfahren bei Einzel- oder Familienporträts. Wie die Kuratorin Olga Sviblova ausführt, produzierten „die großen Studios von Nechayev, Ushakov & Eriks und Eikhenvald“ Tausende solcher Bilder, „die zu einem wichtigen Bestandteil der Wohnungseinrichtung wurden“. Wo die Studios beheimatet waren, in St. Petersburg oder Moskau, wird nicht gesagt. Und auch wenn man sich denken kann, dass die kolorierten Porträts nicht gerade Arbeiterwohnungen zierten: Wer schmückte seine Wände damit? Nur der Adel und das Großbürgertum oder auch schon der kleinere Beamte?
Neben den Berufsfotografen betrieben damals interessanterweise auch die Klöster Fotostudios. So steht es an der Wand, leider ohne ein Wort darüber zu verlieren, warum die Klöster sich eigentlich auf die Fotografie stürzten. Deutlich wird, dass sie auf Architekturaufnahmen, besonders von orthodoxen Kirchen, spezialisiert waren. Und so startet man im zweiten Stock der Photographers’ Gallery mit den Ansichten der kobaltblauen und giftgrünen Zwiebeldachlandschaften des Dreifaltigkeitsklosters von Sergijew Possad, 1890 fotografiert vom klostereigenen Studio, in die Schau.
Sergej Michailowitsch Produkin-Gorski, ein begüterter Industrieller, der mit Billigung und Unterstützung des fotografiebegeisterten Zaren Nikolaus II. durch Russland und die im 18. Jahrhundert unter russische Herrschaft gelangten Regionen reiste, um Land und Leute zu dokumentieren, ist auch im Westen bekannt. Aus einer der ältesten Familien Russlands stammend, war er keine müde Tschechow-Figur, sondern verkörperte Russlands Willen zur Modernisierung. Er hatte in Berlin und Paris Chemie studiert und 1905 ein Verfahren entwickelt, mit dem er – durch drei hintereinandergeschaltete monochrome Platten in den Farben Rot, Grün und Blau – Farbaufnahmen machen konnte. Eine seiner ersten Farbaufnahmen, die auch gleich eine seiner berühmtesten wurde, ist in London zu sehen: ein alter, ernst und gefasst dreinschauender Leo Tolstoi unter Bäumen (1908).
Was die weiteren von Produkin-Gorski gezeigten Landschafts- und Architekturbilder angeht, so scheint es, als habe er sich nur auf der Krim herumgetrieben, was wundert, weil er doch dafür berühmt ist, das ganze Imperium fotografisch vermessen zu haben. Und da es weiter bekannt ist, dass die 10.000 Glasplatten, die er so belichtete, in der Library of Congress in Washington liegen (Produkin-Gorski war nach der Oktoberrevolution ins Exil nach Paris gegangen), stört es in diesem Fall besonders, dass es in der Schau generell keine Angaben zur Herkunft der Abzüge gibt.
Die Krim wird um 1910 auch von einem Semiov genannten Fotografen bereist, von dem man nichts weiter erfährt außer dem, was an den Wänden zu sehen ist: Ansichten antiker Ruinen, von Weinbergen und Jalta. Die Industrialisierung Russlands fällt bei Olga Sviblova weitgehend aus. Einzig der Bahnhof von Chusovskaya, den ein anonymer Fotograf 1890 aufnahm und wundervoll sorgfältig kolorierte, berichtet von den Modernisierungsanstrengungen des kaiserlichen Russlands. Die Bahnstation liegt auf der Strecke, die den Ural von Perm nach Jekaterinburg, einer der ersten Industriestädte des Reiches, erschließt.
Um 1910 offensichtlich sehr beliebt sind Ganzkörperporträts von Offizieren der Kaiserlichen Armee, ihre Uniformen und die beigestellten Blumen höchst farbenfroh koloriert. Die Aufnahmen ähneln den Porträts, die in den 1860er Jahren im Ushakov und Eriks Studio entstanden. Ein ästhetischer oder technischer Fortschritt ist nicht erkennbar. Dabei zeigt eine 1898 entstandene Aufnahme von Aleksey Mazurin, der dem russischen Piktoralismus zugerechnet wird, dass mit Farbfotografie beziehungsweise Farbdruckverfahren längst höchst anspruchsvoll experimentiert wurde. Wie die wesentlichen Protagonisten der Kunstfotografie um 1900 in Europa und den USA dürften auch Mazurin oder Peter Vedenisov Fotoamateure gewesen sein, also finanziell unabhängige Liebhaber der Fotografie, die den Kunstanspruch ihres modernen Mediums ohne Rücksicht auf den gängigen Geschmack zu behaupten suchten.
Für diese Annahme spricht im Fall Vedenisov sein Sujet, die offensichtlich wohlhabende Familie Kozakow. Allein wegen dieser in zwei Lichtkästen gezeigten Serie von farbigen Diapositiven muss man sich auf den Weg in die Photographers’ Gallery machen. Man meint, Vedenisov habe schon Tadzio mit seinen Geschwistern fotografiert, während noch Thomas Mann an seinem „Tod in Venedig“ schrieb. Die schönen Kinder der Familie Kozakow werden in Farbe als Sujet exemplarisch, als das Bild der Schicht, die bald darauf zu den Verlierern des 20. Jahrhunderts in Russland zählen wird.
Die Revolution bekennt danach Farbe in der Fotografie vor allem als Agitprop-Montage. Alexander Rodschenko und Varvara Stepanova beherrschen in London das Feld. Und obwohl die Firmen Kodak und Agfa 1936 den ersten Dreischichtenfilm auf den Markt brachten, findet dann der Große Vaterländische Krieg nicht in Farbe statt. Wir sind also schnell im Jahr 1949. Da nimmt der für sein Bild vom 1928 aus Italien heimkehrenden Maxim Gorki berühmte Ivan Shagin blasse Früchtestillleben mit dem ersten Farbfilm sowjetischer Produktion auf. Dimitri Baltermants, ebenso prominenter sowjetischer Fotojournalist, bannt 1953 den aufgebahrten Stalin inmitten eines roten Blumenmeers auf diesen Film. Dimitri Baltermants ist eine Entdeckung. Er sieht, wenn er fotografiert, nicht nur die Szene, er sieht immer das Bild, wie seine hinreißende Serie vom Alltagsleben auf dem Arbat-Platz in Moskau belegt.
In den 1960er Jahren beginnt sich dann der Ingenieur Boris Mikhailov für die Fotografie zu interessieren und nahm den Sowjetmenschen auf, wie ihn in der Sowjetunion niemand sah und kannte. Zum Beispiel nackt. Die in konzeptuellen Fotoserien und -büchern zusammengestellten Bilder, bei denen er gerne mit der Technik der Handkolorierung arbeitete, zeigte er im Untergrund, in Clubs, Künstlerateliers und Privatwohnungen, etwa die in London gezeigte Diashow „Suzi et Cetera“ (1960/1970). Wie viele Künstler der russischen Avantgarde, etwa Malewitsch, Tatlin, Kandinsky, Pevsner oder Alexandra Ekster, um nur einige zu nennen, stammt auch Mikhailov aus der Ukraine. Bevor er 1996 nach Berlin übersiedelte, arbeitete er in seiner Heimatstadt Charkow. Nur das ist in London zu erfahren.
Unverständlich, dass eine so renommierte Institution wie die 1971 gegründete Photographers’ Gallery, die seit über 40 Jahren erfolgreich den Stellenwert der Fotografie in der Kunst deutlich macht, nicht einen wissenschaftlichen Mitarbeiter daran gesetzt hat, die schöne Ausstellung mit den entsprechenden Auskünften zu vertiefen.
■ Bis 19. Oktober, Photographers’ Gallery London