: Anwalt mit Hang zu wilden Geschichten
So einen würde man in einem Film mit Inspektor Clouseau vermuten: Ein Anwalt, der aus seiner Heimatstadt Neapel zur Insel Ischia aufbricht, um dort als ehrenamtlicher Amtsrichter tätig zu werden – und den Inselbewohnern vor allem dadurch auffällt, dass er eisern römischen Dialekt spricht.
Eigentlich gehört der Verwandlungskünstler Mario Scaramella in eine Farce – doch mit dem Tod des russischen Exgeheimdienstagenten Alexander Litvinenko hat er sich eine wichtige Rolle in einer weltweit beachteten Tragödie erobert. Scaramella hatte sich am 1. November mit Litvinenko in jener Londoner Sushi-Bar getroffen, in der der Russe wohl vergiftet wurde. Jetzt musste auch der Italiener ins Krankenhaus, weil bei ihm eine Kontamination mit Polonium-210 diagnostiziert wurde, die mal als „potenziell tödlich“, mal als ziemlich unbedeutend gemeldet wird.
Papiere über den Tod der Journalistin Anna Politkowskaja wollten sie angeblich austauschen an jenem 1. November. Doch der Kontakt zwischen Scaramella und Litvinenko bestand länger. Scaramella war unter der Regierung Berlusconi ein wichtiger Berater der italienischen Rechten geworden.
Die hatte 2002 beschlossen, einen parlamentarischen Untersuchungsausschuss einzusetzen, um herauszufinden, wie stark Italiens Linke mit dem KGB verbandelt war.
Scaramella liebt wilde Stories. Das beginnt beim eigenen Lebenslauf, der ungefähr 16 Universitäten aufzählt, von Kalifornien bis zum indischen Tamil Nadu, an denen der Mann angeblich lehrt, dazu Weltraumkommissionen rund um den Erdball, aber auch den Nationalpark des Vesuvs, wo der Mann als Berater beim Abriss von Schwarzbauten tätig war.
Die Staatsanwaltschaft Neapel beschäftigte er mit der von ihm verbreiteten Geschichte eines angeblich vor Neapel gesunkenen Sowjet-U-Boots mit scharfen Atomraketen an Bord, die – so seine These – durch die Strahlungen einer Antenne auf dem Vesuv zum Abschuss gebracht werden könnten. Bei dem Berlusconi so teuren Untersuchungsausschuss machte er sich beliebt, weil er Romano Prodi als früheren Statthalter des KGB in Italien enttarnen wollte, pünktlich zu den Wahlen 2006. Daraus wurde nichts. Offenbar waren Berlusconi die „Beweise“ zu windig, um sie im Wahlkampf zu verwenden.
Scaramella hat es derweil geschafft, mit dem von ihm „aufgedeckten“ Schmuggel russischer Waffen nach Italien zum Objekt von Ermittlungen der Staatsanwaltschaft Rom zu werden. Die verdächtigt ihn, den Waffenschmuggel selbst eingefädelt zu haben.
Auch jetzt – im Fall Litvinenko – fragen sich viele, was Scaramella von dem Russen wollte.
MICHAEL BRAUN