: Gepflegte Unschuldsbekundung
AUS MADRID REINER WANDLER
Der junge Mann tritt auf, als könne er keiner Fliege was zuleide tun. Ruhig und bestimmt beantwortet Mohamed Larbi die Fragen der Staatsanwältin Olga Sánchez. Die Arme vor sich verschränkt, redet der Marokkaner in fließendem Spanisch. „Alles, was über mich gesagt wird, ist falsch“, erklärt er auf die Vorwürfe, er habe Mohamed Afalah, einem der zwei flüchtigen Mitglieder des Terrorkommandos, das am 11. März 2004 die Bomben in den Pendlerzügen von Madrid legte, geholfen, Spanien zu verlassen. Das Attentat forderte 191 Tote und knapp 2.000 Verletzte. Es war der größte Anschlag in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg.
In seiner neuen Jeans, dem orangefarbenen Sweatshirt mit dünnen schwarzen Streifen, mit kurz rasiertem Haar und gepflegtem Zweitagebart erinnert der junge Mann aus Tanger eher an einen BWL- Studenten. Doch die Ermittlungsakten, auf die sich Staatsanwältin Sánchez stützt, kommen zu einem ganz anderen Schluss: Mohamed Larbi ist ein gefährlicher Islamist. Der Mann, der seit acht Jahren in Spanien lebt, soll mit Afalah Kontakt gehalten haben, bis sich dieser bei einem Anschlag im irakischen Kerbala in die Luft sprengte. Das sollen Telefongespräche und E-Mails belegen.
Afalah ist nicht der einzige Beteiligte an dem Anschlag von Madrid, der nicht mehr vom Gericht zur Verantwortung gezogen werden kann. Sieben weitere Attentäter sind ebenfalls tot. Sie sprengten sich in einer Wohnung im Madrider Vorort Leganés in die Luft, als sie von der Polizei umstellt wurden. Unter den 29 Angeklagten befinden sich nur noch drei mutmaßliche Bombenleger. 20 Beschuldigte sind mutmaßliche Islamisten, die meist als Immigranten in Spanien leben, neun sind Spanier. Letztere sollen den Sprengstoff für die Bomben besorgt haben.
Larbi soll nicht nur Fluchthelfer gewesen sein, sondern auch Kontaktmann zwischen dem mutmaßlichen Chefideologen der Attentate, dem in Italien festgenommenen Rabei Osman, und der ausführenden Zelle von Madrid. Larbi, der sich als Hilfsarbeiter auf dem Bau und als fliegender Händler verdingte, soll mit Mitgliedern des Kommandos Videos des radikalen, al-Qaida zugerechneten Londoner Imams Abu Qatada ausgetauscht und Versammlungen in Madrid organisiert haben. Bis zu seiner Verhaftung 2005 habe er junge Muslime für den Einsatz im Irak rekrutiert. In den Trümmern der Wohnung in Leganés wurde ein Koran mit Larbis Fingerabdrücken gefunden. 27 Jahre Haft fordert die Staatsanwaltschaft für ihn, wegen „Kollaboration mit einer terroristischen Gruppe“ und „Konspiration zum terroristischen Mord“.
„Kennen Sie Rabei Osman?“ – „Nein“ – „Kennen Sie Jamal Zougam?“ – „Nein“ – „Kennen Sie …“ Nach den mitangeklagten mutmaßlichen Ideologen und Attentätern befragt, lässt sich Larbi nicht aus der Ruhe bringen. „Ist es richtig, dass Sie ‚der Bote‘ genannt wurden?“ – „Nein“, entgegnet er abermals kurz. Er schaut bei seiner Aussage, wie ein Großteil der Mitangeklagten zuvor, Staatsanwältin Sánchez kaum an. Die spanische Presse wertet dies als ein Zeichen für die radikale religiöse Einstellung.
Die restlichen Beschuldigten verfolgen die Szene aufmerksam von ihren Bänken in einem gepanzerten Glaskasten – dem „Aquarium“ – aus. Bis auf Rabei Osman tragen alle einen gepflegten Haarschnitt und, wenn überhaupt, nur einen Hauch von Bart. Nichts erinnert an die wilden Gesellen auf den Polizeifotos bei der Verhaftung. Die, nach denen Larbi befragt wird, schauen starr vor sich hin.
Auch nach der Reiseroute der in den Irak gelangten jungen Muslime befragt, streitet Larbi ab, die Männer jemals für einen Einsatz als islamistische Kämpfer angeworben zu haben. Warum er dies nach seiner Verhaftung zugegeben habe, will die Staatsanwältin wissen. „Ich habe viele Sachen ausgesagt, weil ich Angst hatte.“ – „Angst wovor?“ – „Vor den Drohungen und der Folter. Die wollten gar nicht die Wahrheit wissen. Sie folterten mich, indem sich mich unter anderem zwangen, Schweinefleisch zu essen“, lautet der Vorwurf gegen die Ermittler.
Ein ungläubiges Raunen, vermischt mit einzelnen Lachern, geht durch den Teil des Saales, in dem die Angehörigen der Opfer des Attentates Platz genommen haben. Kaum wahrnehmbares, zustimmendes Kopfnicken bei denen, die als Angehörige und Freunde der Angeklagten gekommen sind. Beide Seiten beäugen sich in den Verhandlungspausen auf dem Gang argwöhnisch. Hin und wieder entlädt sich die Spannung. Nicht immer trifft es die Richtigen. Das weiß Yamila Ben Salah, eine mit Kopftuch bekleidete Marokkanerin. „Jetzt siehst du, was deine Landsleute anrichten“, wurde ihr von einer Spanierin ins Gesicht geschleudert. „Ich bin doch selber Opfer“, sagt Ben Salah verständnislos. Ihre 13-jährige Tochter starb in einem der Züge.
Längst sind nicht mehr alle Stühle im Zuschauerraum besetzt. Der Andrang der ersten Verhandlungswoche ist abgeflaut. Die wenigen verbliebenen Journalisten, die Anwälte, Besucher und Gerichtspersonal kennen sich längst. Hier eine kleine Nachfrage, dort ein Kopfnicken oder ein Lächeln. Acht Stunden, drei Mal die Woche, und das für die nächsten fünf Monate – das Verfahren entwickelt seine eigene Dynamik.
Der Hochsicherheitssaal in einem Gebäude auf dem alten Messegelände vor den Toren Madrids hat den Charme der Büromöbelabteilung von Ikea. Eine Vertäfelung aus hellem Holz ziert die Wände. Die schlichten Tische sind aus dem gleichen Material, egal ob für den Vorsitzenden Richter Javier Gómez Bermúdez, der sich bereits durch das Verfahren gegen die spanischen Unterstützer der Anschläge vom 11. September einen Namen gemacht hat, für die Staatsanwaltschaft oder für Nebenkläger und Verteidiger. Und die Zuschauer müssen sich mit Stühlen begnügen, die auf die Dauer unbequem werden.
Drei riesige Flachbildschirme hängen an der Wand. Auf ihnen läuft das Fernsehbild, das live und unzensiert aus dem Gerichtssaal zur Verfügung gestellt wird. Das Madrider Regionalfernsehen strahlt die Verhandlung in voller Länge aus. Mehrere Websites machen das Gleiche, darunter das Juristenportal www.datadiar.tv.
Wer wollte, konnte so in Echtzeit mit dabei sein, wie die mutmaßlichen Hintermänner des Attentats ihre Aussage gegenüber Staatsanwältin und Nebenklage verweigerten. Regungslos, schweigend ließen sie eine Frage nach der anderen über sich ergehen. Nur ihren Verteidigern standen Rabei Osman, Hassan El Haski und Youssef Belhadj, die jeder Einzelne mit bis zu 38.656 Jahren Haft rechnen müssen, Rede und Antwort. Ihre Erklärungen glichen sich. Sie stellten sich als einfache Immigranten dar, die sich meist ohne Papiere durch Europa geschlagen hätten. Sie seien normale gläubige Muslime, aber keinesfalls radikal. Kontakte zu salafistischen Gruppen verneinten sie und distanzierten sich von jeglicher Gewalt.
Auch Jamal Zougam, Basel Ghalyoun und Abdelmajid Bouchar, die von der Staatsanwaltschaft beschuldigt werden, die Bomben in den Zügen platziert zu haben, distanzierten sich von den Attentaten. Anders als ihre Vorgänger beantworteten sie die Fragen der Staatsanwältin und der Nebenkläger. Nichts, aber auch gar nichts wollen sie mit denen zu tun gehabt haben, die sich in Leganés das Leben nahmen.
Staatsanwältin Sánchez ist sich sicher, dass sie die Angeklagten dennoch überführen wird. Ihre Zuversicht beruht auf einer langen Reihe von Aktenschubern, die fein säuberlich an der Wand hinter den Richtern aufgereiht stehen. Darin befinden sich 93.000 Seiten Ermittlungsakten und 200.000 Seiten dokumentarische Anhänge. Die Papiere enthalten Unmengen von Indizien: abgehörte Telefongespräche, Kontaktdaten von Handys, E-Mails, Fingerabdrücke und genetische Profile sowie die Protokolle von Gegenüberstellungen, bei denen Zuginsassen Zougam, Ghalyoun und Bouchar als diejenigen wiedererkannt haben wollen, die Taschen mit den Bomben in den Waggons deponierten – allerdings nachdem deren Bilder bereits tagelang durch Fernsehen und Presse gegangen waren.
Der Hauptbeweis gegen den mutmaßlichen Chefideologen Rabei Osman sind von der italienischen Polizei mitgeschnittene Telefonate, in denen „der Ägypter“ – so sein Spitzname – gegenüber einem jungen Islamisten prahlt, die sieben von Leganés seien seine Freunde gewesen und er habe die Idee zu den Anschlägen von Madrid gehabt. Topterrorist oder Aufschneider?, fragten einige Kolumnisten nach Rabei Osmans Verhaftung. Dies ist nur eine der vielen Fragen, die Richter Gómez Bermúdez am Ende des Verfahrens wird beantworten müssen.