KOMMENTAR VON ULRIKE HERRMANN : Der Populismus der Mitte
Kanzlerin Merkel ist eine Populistin. Sie steigt aus der Atomkraft aus und beteiligt sich nicht am Flugangriff auf Libyen, weil sie diverse Landtagswahlen gewinnen will.
Populismus ist in Deutschland ein böses Wort, ein harter Vorwurf. Aber warum eigentlich? Es ist doch der Sinn von Demokratie, dass sich die Regierenden nach den Wünschen ihrer Wähler richten. Es müsste die Deutschen also freuen, dass ihre Stimme tatsächlich Einfluss hat und eine Kanzlerin zum vorauseilenden Gehorsam zwingt.
Populismus ist gut. Warum wird er dann verteufelt? Ein Grund mag sein, dass Populismus sehr unbequem ist, denn er bedeutet Verantwortung – für die Wähler. Schließlich ist ihr Wunsch Gesetz. Dies bedeutet umgekehrt, dass der Lieblingsmythos der Deutschen falsch ist. Sie sind nicht die wehrlosen Opfer, die der Politik hilflos ausgeliefert sind und nur am Stammtisch stöhnen können, „was die da in Berlin verzapfen“. Die Wähler bestimmen die Politik.
Die Mehrheit der Deutschen mögen weder Kriegseinsätze noch Atomkraftwerke – was sich nun als offizielle Regierungspolitik durchsetzt. Mit Merkels Schwenk existiert wieder die inoffizielle Allparteien-Koalition. Denn bekanntlich sind auch SPD, Linke und Grüne gegen Atomkraft – und einen Militäreinsatz in Libyen fordert ebenfalls keine Partei. Nicht nur Merkel kennt die Wähler, sondern auch die Opposition.
Populismus ist eben nicht nur auf die Union oder die Regierung beschränkt. Alle Parteien blicken auf die Bürger, was zu weitgehend identischen Wahlprogrammen führt. So ist es in Sachsen-Anhalt kaum möglich, Differenzen zwischen der CDU und der Linkspartei zu entdecken. Bei der vergangenen Wahl in Hamburg blieb ebenfalls völlig unklar, was etwa die Grünen von der CDU oder der SPD unterscheiden sollte.
Alle Parteien konkurrieren mit ähnlichen Programmen um fast die gleichen Wähler – wofür längst ein Wort gefunden wurde: die „Mitte“. Sie ist die Projektionsfläche für die CDU genauso wie für die Grünen. Diese mittige Mehrheit der Gesellschaft kennt allerdings auch Themen, die sie nicht besonders interessieren. Ein Beispiel: der gesetzliche Mindestlohn. Deswegen gibt es ihn auch noch nicht.