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Archiv-Artikel

Carlos Familie klagt an

Angehörige des erschossenen Carlo Giuliani haben Italiens Staat beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte verklagt

AUS STRASSBURGCHRISTIAN RATH

Die Szenen erinnern an einen Bürgerkrieg: Am 20. Juli 2001 findet in Genua der G-8-Gipfel statt. Es gibt Demonstrationen, Randale und Polizeigewalt. Am Ende des Tages liegt ein 23-Jähriger tot auf der Straße: Carlo Giuliani, erschossen von einem Militärpolizisten. Jetzt klagen die Eltern und eine Schwester Giulianis beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Italien habe das Recht auf Leben ihres Sohns und Bruders missachtet.

Der tragische Zwischenfall geschah auf der Piazza Alimonda. Zwei Polizei-Jeeps verloren den Kontakt zu ihrer flüchtenden Einheit und wurden von gewalttätigen Demonstranten attackiert. Im Jeep sitzt unter anderem der damals 19-jährige Marco Placanica. Eigentlich will sein Vorgesetzter den Wehrpflichtigen aus der Kampfzone bringen, da Placanica mit den Nerven am Ende ist. Placanica wirft einen Feuerlöscher aus dem Jeep Richtung Demonstranten und zielt dann durch die zerborstene Scheibe mit seiner Pistole auf wechselnde Angreifer. Carlo Giuliani, der zwei Meter neben dem Jeep steht, sieht die Pistole nicht, hebt den Feuerlöscher auf, vielleicht um ihn zurückzuwerfen, der Carabinieri schießt, Giuliani wird in den Kopf getroffen und ist vermutlich sofort tot. Dass ihn das Fahrzeug zweimal überrollt, spürt er nicht mehr.

Zwei Jahre später wird das Verfahren gegen den Carabinieri mit einer schier unglaublichen Begründung eingestellt: Der junge Soldat habe nur in die Luft geschossen, dort einen von Demonstranten geworfenen Stein getroffen, und dieser habe den Warnschuss unglücklich Richtung Giuliani abgelenkt. Das habe ein ballistisches Gutachten ergeben, so die italienische Richterin im Jahre 2003.

Die Eltern sind entsetzt über so viel Dreistigkeit. Denn ein britischer Fotograf hat den tragischen Zwischenfall auf zahlreichen Bildern festgehalten – stets zielte die Pistole Placanicas direkt auf die Demonstranten. In Straßburg wird der Prozess nicht neu aufgerollt, aber die sieben Richter unter Vorsitz des Briten Nicolas Bratza untersuchen, ob der italienische Staat mit diesem Polizeieinsatz und der Einstellung des Gerichtsverfahrens die Europäische Menschenrechtskonvention verletzt haben.

Allessandra Mari, die Anwältin der Giulianis, ist sicher, dass das seltsame ballistische Gutachten und die darauf gestützte Einstellung des Verfahrens von den Straßburger Richtern beanstandet wird – schon weil Schütze Placanica erstmals nach Vorlage des Gutachtens sagte, dass er nach oben gezielt habe.

Doch Mari fragt auch nach der Verantwortung der Vorgesetzten. „Warum wurde dem überreizten Carabinieri sein Tränengas-Kanister weggenommen, aber die Schusswaffe belassen?“ Francesco Crisafulli, der Vertreter der italienischen Regierung, hat darauf sogar eine einleuchtende Antwort: „Den Kanister hat ein anderer Soldat übernommen, während die Waffe nun mal zur Standardausrüstung gehört.“

Die Anwältin der Klägerin wurde aber noch grundsätzlicher. Ihre These: Letztlich hat die Politik Schuld an Giulianis Tod. „Das Recht zum Waffengebrauch bei Demonstrationen wurde in den 30er-Jahren von den Faschisten eingeführt und gilt immer noch unverändert.“ Es sei eine „licence to kill“, die den hohen europäischen Anforderungen an den Schutz des Lebens nicht genüge. Auch UN-Standards zum Schusswaffengebrauch seien in Italien nicht umgesetzt worden. Und dann zählte sie alle 101 Toten auf, die die italienische Polizei seit 1948 bei Demonstrationen und Streiks erschossen hat, die meisten in den klassenkämpferischen 40er- und 50er-Jahren.

Regierungsvertreter Crisafulli wehrte sich allerdings vehement gegen die Vorstellung, in Italien würden regelmäßig friedliche Demonstranten erschossen. Zwar räumte er ein, dass es in Genua auch „fehlerhafte“ Polizeiangriffe auf eine pazifistische Kundgebung der ganz in weiß gekleideten Tute Bianche gegeben hat. Bei den Angreifern auf der Piazza Alimonda habe es sich jedoch um „Stadtguerilleros“ gehandelt. Der Jurist erinnerte daran, dass auch der getötete Giuliani eine Sturmmaske über dem Gesicht trug. „Es kann doch nicht sein, dass die Polizei für solche Situationen nur Pistolen mit scharfer Munition zur Verfügung hat“, entgegnete Anwältin Mari. „Hätte der Carabinieri mit Gummikugeln geschossen, wäre Carlo Giuliani noch am Leben.“

Das Urteil wird in einigen Wochen verkündet.