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Archiv-Artikel

Voyeurismus im Alltag

Erweiterter Choreografiebegriff: Tanzperformance vor Videobildern mit einer rockig-psychedelischen Live-Gitarre. Die Kölner Medienkünstlerin Stephanie Thiersch im Recklinghäuser Ruhrfestspielhaus

VON STEPHANIE KASSING

Vier Tänzerinnen drängeln sich auf einem kleinen, roten Bühnenquadrat. Aggressionen brechen aus ihnen heraus. Dazu dröhnen rockig psychedelische Klänge einer Live-Gitarre. Unterschwellige Gewalt projizieren auch die Bilder der Video-Installation. Die Zuschauer sind eher verstört. „Helter Skelter – wildes Chaos“ ist eines der prämierten Stücke von Stephanie Thiersch. Seit Jahren bewegt sich die Choreografin und Medienkünstlerin mit ihren Performances an der Schnittstelle von Tanz, Theater und Videokunst. „Der multimediale Ansatz dient dazu, eine neue Sinnlichkeit zu kreieren,“ sagt die Wahl-Kölnerin. Das Konzept ist erfolgreich. 2001 erhielt sie den Deutschen Videotanzpreis und den Förderpreis für Medienkunst in NRW.

Verknüpfungs-Phantasie und Träumerei anregen will Thiersch mit ihren atmosphärischen Choreografien. Dazu bewegt sie sich oft zwischen Virtualität und Realität. Videos, Bildprojektionen und von Computern erzeugte Effekte kombiniert sie mit Live-Tanz. Mit dem Zusammenklang der künstlerischen Elemente erzeugt sie unterschiedliche Formen der Wahrnehmung. „Mit unterschiedlichen Perspektiven möchte ich erreichen, dass der Zuschauer Teil einer Offenbarung wird, sich aber auch mit den Bilder identifiziert und dadurch in das Geschehen integriert“, sagt die Künstlerin.

Bereits in ihrer ersten Performance „orange“ (1995) suchte sie Interaktionen zwischen Tanz und Videoinstallationen. Was damals noch als Novum galt, ist heute fester Bestandteil der Tanz-Bühnenwelt. Aber Stephanie Thiersch versucht, sich immer wieder neu zu erfinden. Bei ihrem Stück „ba:ab“ (2000) werden über Dioden die Gehirnströme eines Zuschauers abgenommen. Zusammen mit den Körpergeräuschen der Tänzer dienen diese als Impuls für Farb- und Formgebungen sowie zur Erzeugung von Soundcollagen. Inspirationsquelle für ihre multimedialen Choreografien sind die uns täglich umgebenden Bilder.

Die Idee, einzelne Kunstsparten nicht getrennt zu betrachten, sondern sie gegenseitig zu integrieren, entwickelte die 36-Jährige bereits während ihrer Ausbildung. Neben ihrem Studium der Romanistik, Anglistik und der Medienwissenschaft in Köln absolvierte sie eine Ausbildung in klassischem und modernem Tanz am Staatstheater Wiesbaden und am Centre National Choréographique in Montpellier. Nachdem sie in verschiedenen freien Tanz- und Theatergruppen mitwirkte, unter anderen auch bei dem wilden katalanischen Ensemble „La Fura dels Baus“, gründete sie 1997 ihre eigene Tanzcompanie „mouvoir“, konzipierte aber weiterhin Soloprojekte. 2005 entwickelte sie die erfolgreiche Performance „Under Green Ground“ für die Französin Alexandra Naudet. Hier inszenierte sich die Tänzerin auf einem Stück Fertig-Rasen immer wieder neu – bis hin zum Verlust der Selbstkontrolle.

Hier knüpft ein Jahr später„Helter Skelter“ an. Durch bekannte Motive aus Film, Fernsehen und Werbung, die von den Tänzern interpretiert und so aus dem Zusammenhang gelöst werden, kritisiert Thiersch Rollenklischees überlieferter und zeitgenössischer Frauenbilder. Das Stück wurde mit dem Fachpreis der Theaterzwang-Jury 2006 ausgezeichnet und ist in dieser Woche im Recklinghausener Festspielhaus zu sehen.

01. März 2007, 20:00 UhrInfos: 02361-9180