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Archiv-Artikel

Tödliche Herbstwolken über Beit Hanun

Die palästinensische Familie Al-Athamna hat bei einem israelischen Angriff im nördlichen Gaza-Streifen neunzehn Angehörige verloren. 43 Verletzte liegen noch in den Kliniken. An ein Versehen glaubt niemand, auch wenn die Regierung das beteuert

AUS BEIT HANUNSUSANNE KNAUL

Die fünfjährige Isra schmiegt sich mit schmerzverzerrtem Gesicht an ihre große Schwester. „Es tut weh“, sagt sie unter Tränen und hält sich die Hand auf den Bauch. Ihre Schwester Islam zieht ihr vorsichtig das Hemdchen hoch und zeigt die Wunde, in der noch immer ein Splitter steckt. „Nicht jetzt“, sagt ein Onkel. „Wir haben noch 43 Verwundete in den Krankenhäusern. Es geht ihr gut, sie wird später behandelt.“

Islam Al-Athamna ist dreizehn Jahre alt und seit einer Woche wichtigste Bezugsperson für ihre drei kleinen Geschwister. Um 5.30 Uhr am vergangenen Mittwoch begann der etwa eine halbe Stunde andauernde Angriff der israelischen Panzer auf das vierstöckige Haus der Familie in Beit Hanun. Mit leiser Stimme schildert Islam, wie die Explosionen die Fenster aus den Fugen rissen, wie sie Schreie hörte und ihren Cousin mit gespaltenem Kopf und ihre Schwester mit abgerissenem Fuß sah. Islam griff die Kinder und rannte auf die Straße, um sie in einem Nachbarhaus in Sicherheit zu bringen. Dort musste sie zusehen, wie ihre Mutter und Großmutter nur wenige Meter hinter ihr von einem weiteren Angriff getötet wurden.

Das streng gebundene schwarze Kopftuch lässt nur ihr rundes, von Splittern gezeichnetes Gesicht sehen. Ihr kräftiger Körper steckt unter einem schwarzen Kaftan, der Islam älter erscheinen lässt, als sie ist. Die beiden fünf- und achtjährigen Schwestern und eine zweijährige Cousine, deren Mutter beim Angriff einen Fuß verlor und stationär behandelt wird, suchen pausenlos ihre Nähe. Auch Islams jüngster Bruder ist noch im Krankenhaus. Seit vor einem Jahr ihr Vater einer Krankheit erlag, lebten die Geschwister und die Mutter im Haus des Großvaters.

Neunzehn Mitglieder der Großfamilie starben in dem von Israel als „versehentlich“ deklarierten Artilleriefeuer während der Operation „Herbstwolken“. Raed, ein Onkel Islams, zählt sie immer wieder auf. Er zeigt auf die drei Geschwister. „Ihre Mutter, ihre beiden Großeltern, ein Onkel und zwei seiner Kinder, der Cousin eines anderen Onkels, dessen Frau“, die verwirrende Liste der Toten nimmt kein Ende. In Beit Hanun glaubt niemand an einen Fehler der Armee. „Fünfzehn Angriffe“, wiederholt Raed wieder und wieder. „Wären es ein, zwei oder sogar drei Angriffe gewesen, meinetwegen, aber fünfzehn?“ Im Zweiminutentakt seien die drei nebeneinanderliegenden Wohnhäuser der Al-Athamna-Familie bombardiert worden. Zu Toten und Verletzten kam es nur in dem vierstöckigen Haus, in dem Islam wohnt. An einer Stelle ist die Zimmerdecke eingerissen, an einer anderen die komplette Frontseite. Hinter dem Betonschutt eines Wohnzimmers steht ein Fernseher mit zerbrochener Mattscheibe. Alle noch brauchbaren Möbel wurden in die bewohnbaren Zimmer geschoben.

Die israelische Regierung beschränkte sich auf eine lakonische Entschuldigung. Man bedauerte das tragische Versehen, die Verantwortung trügen indes die Palästinenser selbst, die Israel mit Kassamraketen bedrohten. Eine kurze Untersuchung ergab technische Mängel des Radars, in dessen Folge sieben von insgesamt elf Granatangriffen 450 Meter südlich des angepeilten Ziels einschlugen – ins Haus der Al-Athamnas.

„Ups, das war ein Fehler, tut uns leid“, resümiert Raed fassungslos die israelische Reaktion. „Hat [Israels Regierungschef Ehud] Olmert kein Herz? Muss er nicht weinen, wenn er die Bilder der toten Kinder im Fernsehen sieht?“

Die Familie ist sich einig, dass die israelischen Angriffe gezielt auf sie gerichtet sein mussten. Die Kassamraketen seien ein armseliger Vorwand. „Kassam, das ist heiße Luft und ein Pfeifton. Sie richten nichts aus. Wir sind alle gegen die Kassamraketen“, meint Raed. Niemand würde zulassen, dass die Raketen aus einem Wohnviertel abgeschossen werden.

Islam spricht von einem „Massaker“, das sie „nie vergessen“ wird. Als sie unter bitterem Lächeln von Vergeltung spricht, unterbricht sie ihr Onkel. „Wir wollen keine Beerdigungen mehr von kleinen Mädchen.“ Aber die verantwortlichen Soldaten sollten bestraft werden. Die israelische Armee hatte das Haus der Al-Athamnas während der einwöchigen Operation zuvor für drei Tage besetzt. „Die Soldaten haben unseren Kinder Süßigkeiten gegeben“, sagt Islam, „und dann töteten sie sie.“

In einer kaum beschädigten Wohnung sitzt der dreijährige Fares mit seiner ein Jahr älteren Schwester Rita auf dem Fußboden und sortiert Familienfotos. „Der lebt noch“, sagt die Kleine und legt das Bild ab. „Und der hier kommt auf deinen Stapel.“