Der uralte Revolutionsmotor der Gefühle

ETHIK Ehre ist ein antiquierter Begriff aus Zeiten, in denen Männer sich duellierten. Von wegen – Kwame Anthony Appiah erklärt die Ehre zur Triebkraft der Geschichte

Am Tahrirplatz in Kairo erklärte eine alte Frau: „Wir haben unsere Ehre wieder“

VON MICHAEL HOLMES

Die Szenen auf dem Kairoer Tahrirplatz haben Menschen in aller Welt tief berührt. Die ägyptische Revolution ist nicht zuletzt eine moralische Revolution – auch deswegen findet sie so viele Nachahmer in Libyen und anderen Ländern.

In seinem Buch „Eine Frage der Ehre“ beschäftigt sich der ghanaisch-britische Philosoph Kwame Anthony Appiah mit der Frage, „wie es zu moralischen Revolutionen kommt“. Überzeugend legt er dar, dass das Ehrgefühl – die „tiefe und beständige Sorge um Status und Respekt“ – eine entscheidende Rolle bei den Wandlungsprozessen spielte, die dem Duell, dem Füßebinden in China und dem transatlantischen Sklavenhandel ein schnelles Ende bereiteten.

Diese jahrhundertealten Praktiken wurden zwar durch strenge Ehrenkodizes geschützt, aber immer wieder infrage gestellt. Die moralischen, religiösen und rechtlichen Argumente für deren Abschaffung waren längst bekannt, als die Gegenbewegungen rasend schnell zu wachsen begannen. Appiah zufolge fielen die unmenschlichen Bräuche innerhalb einer Generation der Verachtung anheim, weil es den Gegnern mit Klugheit und Geschick gelang, die uralten Ehrtraditionen auf den Kopf zu stellen und die Ehre gegen die alte Ordnung zu wenden: „Das Duell durfte nicht länger als Möglichkeit angesehen werden, die Ehre eines Gentleman zu verteidigen. Das Füßebinden durfte nicht länger Zeichen eines höheren gesellschaftlichen Standes sein. Arbeit und afrikanische Abstammung mussten vom Gedanken der Ehrlosigkeit getrennt werden.“

Nach Appiah entwickelten diese Revolutionen eine starke Eigendynamik und erfassten alle Schichten. Daher lassen sie sich nicht einfach auf die umfassenden Modernisierungsprozesse in England und China zurückführen. Niemand hatte sie kommen sehen. Niemand hatte sie geplant. Niemand kontrollierte sie.

Appiah sieht in der Ehre „die Kraft hinter der weltweiten Menschenrechtsbewegung“. Als aktuelles Beispiel dient ihm der Kampf gegen die sogenannten Ehrenmorde in Pakistan, wo jedes Jahr über tausend Menschen der grausamen Tradition zum Opfer fallen. Die Mörder rechtfertigen ihre Untaten mit dem traditionellen Ehrenkodex. Aber auch die mutigen Frauen und Männer, die für ein konsequentes Verbot und die soziale Ächtung der Morde eintreten, appellieren an das Ehrgefühl ihrer Mitmenschen. Ihre Botschaft: Jeder Ehrenmord ist eine Schande – für die Familie und den Stamm, für Pakistan und den Islam!

Viele Menschen im Westen halten die Ehre für ein vormodernes Relikt, das auf den Müllhaufen der Geschichte gehört. Appiah ist dagegen überzeugt, dass sie auch die moralischen Fortschritte der Zukunft vorantreiben kann. Er wirft die Frage auf, welche heutigen Missstände unsere Nachkommen als etwas Schändliches betrachten werden – die Fortdauer der Armut, die Wiederkehr der Folter, die Massentierhaltung? Deren Gegner vertrauen meist auf das Mitgefühl und den Verstand der Menschen. Vielleicht sollten sie den Kampf für eine bessere Welt zur Ehrensache erklären?

Appiahs Buch ist kein Geschichtsbuch, sondern ein Manifest. Seine Thesen lassen sich nur in der Praxis überprüfen – an Orten wie dem Tahrirplatz in Kairo. Dort erklärte übrigens eine alte Frau: „Wir Ägypter haben unsere Ehre wieder“.

Kwame Anthony Appiah: „Eine Frage der Ehre. Wie es zu moralischen Revolutionen kommt“, C. H. Beck, München 2011, 270 Seiten, 24,95 Euro