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Archiv-Artikel

„Migranten haben einen Vorteil“

Wie Reisen auf den alten Migrantenrouten Subjekte prägt und was das mit dem EU-Erweiterungsprozess zu tun hat – damit beschäftigt sich die Videokünstlerin Angela Melitopoulos, deren neueste Arbeit beim Festival „Beyond Belonging“ zu sehen ist

INTERVIEW KIRSTEN RIESSELMANN

taz: „Corridor X“ heißt die EU-finanzierte Trasse von Salzburg nach Istanbul, Ihre Videoarbeit heißt auch so. Auf dieser Strecke fuhren bis zum Jugoslawienkrieg die „Gastarbeiter“ aus Deutschland nach Griechenland und in die Türkei.

Angela Melitopoulos: Es geht mir aber nicht um Nostalgie, sondern darum, das Denken an sich als einen dauernden Prozess der Erinnerung zu zeigen. Und Denken hat für mich mit Film viel zu tun: Ich gehe in meiner Arbeit davon aus, dass Video technologisch ein Instrument ist, das die Gedächtnisfunktionen des Gehirns simuliert.

Worüber denkt „Corridor X“ nach?

Wie man individuelle Erinnerung öffnen kann für eine kollaborative Arbeit zum Thema Raum und Raumaneignung in der „B-Zone“.

„B-Zone“?

Das, was wir nicht Balkan oder Südosteuropa nennen wollten, das werdende Europa zwischen Deutschland und der Türkei.

Ihr Film ist eine Doppelprojektion: Viele Fahrten auf der Autobahn, Interviews im Auto, daneben alte Familienbilder und Archivmaterial.

Ich bin dreimal zwei Wochen mit der Kamera auf dem Autoput gereist, dem Teil der „Corridor“-Strecke in Exjugoslawien. Es war die Reiteration der Reise, wie ich sie früher mit meinen Eltern immer gemacht habe. Die typische Migrantenreise. Drei Tage lang saß man eingeklemmt im Auto. Mein Film erzählt aber nicht, wie es damals war. Er beschäftigt sich vielmehr damit, was durch dieses Reisen passiert ist: Es hat sich ein ganz spezifisches Raumdenken entwickelt.

Warum konzentrieren Sie sich auf den jugoslawischen Streckenteil?

Weil mir dessen enorme Bedeutung für Exjugoslawien bewusst geworden ist. Der Autoput war ein Nation-Building-Projekt von Tito: Unter dem Motto „Brüderlichkeit und Einheit“ arbeiteten in den 50ern tausende von jungen Leuten freiwillig an der Trasse, ein enormes partizipatives Projekt. Im Krieg wurde die Straße zur Frontlinie und 1995 zwischen Zagreb und Belgrad total zerstört.

Spätestens seitdem nehmen Migranten aus Deutschland das Flugzeug für Familienbesuche.

Ihnen fehlt diese Art der Reiseerfahrung, dieses Da-runter-Tuckern. Drei Tage verbrachten wir wie in einer Raumkapsel, in der anders gedacht und gesprochen werden konnte. In Deutschland war man Teil einer Minderheit, und in dem anderen Land war man es wieder. Nur auf dieser Strecke war man in einer kleinen Autonomie.

Der Transitraum als Ort der wahren Selbsterfahrung?

Ja, und das hat auch nicht nur etwas mit Migration zu tun. Es ist meines Erachtens insgesamt so: Mobilität und Subjektivität haben einen bestimmten Zusammenhang. Man muss sich ja nur anschauen, was die Einschränkung der Reisefreiheit zum Beispiel für die Menschen aus Serbien oder Makedonien bedeutet.

Den EU-Infrastrukturmaßnahmen Richtung Osten geht es allerdings nicht um Subjektivitäten, sondern darum, den Warenverkehr zu vereinfachen.

Ja, aber entlang dieser Korridore realisiert sich die europäische Erweiterung als ein System, das Mobilität reguliert und damit Subjektivitäten. Ich will aber ja gar nicht die Arbeit der EU kritisieren, die enorm ist und sehr wichtig.

Dann geht es Ihnen eher darum, eine migrantische Identität als deterritorialisierte, weitgereiste zu stärken und ihr klare Argumente für eine positive Selbstbeschreibung zu liefern?

Ja und nein. Mir geht es überhaupt nicht um Identitätspolitik. Identität verhandelt fixe Positionen. Mir geht es um Positionen, die sich bewegen. Wir sollten versuchen, etwas zu denken, das in Bewegung ist und sich kontinuierlich mit dem Außen verknüpft. Reisen, temporäre Aufenthaltsorte, Passagen – was das bedeutet für die eigene Wahrnehmung. Ich betrachte das nicht als exemplarisch migrantisch, sondern als etwas, das alle angeht, die mit dem heutigen Regime der Mobilität in Berührung kommen. Migranten haben da vielleicht nur den Vorteil, dass sie auf eine Art von Genealogie zurückkucken können.

Was wollen Sie vermitteln?

Ich will, dass meine Arbeit den Kopf aufmacht.

Ihre Bilderreise verweigert standhaft eine lineare Erzählung oder ein bloß dokumentarisches Aufarbeiten. Trotzdem kommen Sie am Ende an.

Okay, ich komme an die Grenze zwischen Makedonien und Griechenland, ein Niemandsland, wunderschöne Landschaft. Ich setze die Bilder von diesem Ort neben Bilder aus einem Winnetou-Film, der als deutsche Produktion in den 60ern in Jugoslawien gedreht wurde. Die Frage, die beide Bilder verbindet, ist: Wie entwickelt sich eine Raumvorstellung mit einer Infrastruktur, deren Entstehung außerhalb unserer Teilhabe liegt?

Was hat das denn mit Winnetou zu tun?

Winnetou ist eine ironische Anmerkung zum Vorgehen der EU in der B-Zone. Im Film werden Eisenbahnschienen quer durch ein Indianerreservat verlegt, weil der Boss beschließt: „So sparen wir Geld“. Mein Film endet mit der Frage „Wer ist wir?“. Denn ohne Partizipation keine Form des Wir. Exjugoslawien begreift die EU-Erweiterung als anti-partizipatorisch – als nicht verknüpfbar mit seiner lebendigen Geschichte von „Brüderlichkeit und Einheit“.