: Die Säulen des Untergrunds
TIEFE Vor rund 150 Jahren begannen die Berliner, das Erdreich unter ihrer Stadt zu erschließen. Die ersten Gewölbekeller, die gebaut wurden, waren Brauereien – denn Motor dieser Entwicklung war ein besonders gutes Bier
VON MARIA ROSSBAUER
Alles begann damit, dass die Berliner plötzlich dieses eine Bier so gern mochten – jenes, das heute in bauchigen Flaschen mit den Logos der Brauereien Augustiner oder Tegernseer in vielen Kiosken steht. Es sei viel belebender, hieß es um 1820 auf einmal, nicht so ermüdend wie die Berliner Weisse. Fast schon, als stünde das Berliner Bier auf einmal für alles Behäbige, Konservative – das neue Bier aus Bayern hingegen für die Revolution schlechthin.
Eine Weile ließen sich die Berliner darum das hippe Bier in großen Fässern auf Pferdekarren aus dem deutschen Süden heranschleppen. Doch das war teuer, und außerdem vertrug das Bier nicht all zu viel Wärme – oft genug kam es nach wochenlangem Transport ungenießbar an. Einigen Berlinern war also bald klar: Wir müssen das Bier selbst brauen.
Das Problem war nur: Das vor knapp 200 Jahren angesagte Bier war ein untergäriges. Die Hefe, die dem Bier beim Brauen den wertvollen Alkohol hineinverstoffwechselt, schwimmt in den großen Braubottichen unten. Beim obergärigen schwimmt sie, wie der Name schon sagt, oben. Außer im Schwimmverhalten unterscheiden sich die Hefen vor allem dadurch, dass die untergärige eine viel geringere Temperatur braucht, um in Schwung zu kommen, nämlich um die 4 Grad. Das sind Kühlschranktemperaturen – doch Kühlschränke gab es zu dieser Zeit noch nicht. Die einzigen geeigneten Orte, die solche niedrigen Temperaturen versprachen, waren: im Untergrund.
„Braukeller zu bauen war in Berlin gar nicht so einfach“, sagt der Historiker Niko Rollmann. Er geht langsam durch von Neonröhren hell erleuchteten Gewölbe in Prenzlauer Berg. Etliche turnhallenhohe Räume reihen sich hier tief unter der Erde aneinander: Vor mehr als 150 Jahren war hier die Königstadt Brauerei beheimatet.
Es ist kühl, die Wände sind hellgrau, die Decken gewölbt, immer wieder trennen Säulen die Räume. Der Keller ist heute eine Tiefgarage. Darum mischen sich unter den Geruch von Beton immer wieder Abgase, wenn ein Auto die steile Ausfahrt hinaufrauscht.
Rollmann geht durch die hohen Durchgänge von einem Keller zum nächsten, zeigt auf rote Ziegelsteine, die an manchen Stellen hervorblitzen, wenn der Putz etwas abbröckelt. Die Ziegelsteine sind aus einer anderen Zeit – denn früher waren die Räume hier düster und die Wände dunkelrot.
Dort, wo heute Autos stehen, lagerten damals riesige Holzfässer, dicht aneinandergepresst. Sie waren so hoch, dass die Arbeiter nur mit Leitern nach oben kamen. Immer wieder stiegen sie hinauf, um einen prüfenden Blick in eines der Fässer zu werfen. Es muss süßlich-klebrig gerochen haben damals. Denn genau hier war einmal einer der ersten modernen Braukeller Berlins – einer der Orte, an dem die Menschen den Boden unter ihrer Stadt erschlossen hatten.
„Andere Städte hatten ihren Untergrund schon viel intensiver ausgebuddelt“, erzählt Rollmann. Der 43-Jährige trägt eine randlose Brille und hat ein jungenhaftes Lächeln. Seine dunklen Lederschuhe hallen bei jedem Schritt in den Gewölben. An seiner rechten Schulter hängt ein schwarzer Lederrucksack, aus dem er später etliche Bücher ziehen wird. Bücher, die er geschrieben hat und in denen er sich mit dem Berliner Untergrund und darum auch mit der Geschichte der Braukeller auseinandersetzt. Sein neues Buch, „Unter Berlin“. erscheint Ende August.
Rollmann ist fasziniert von allem, was unter der Erde Berlins passiert. Seine Leidenschaft begann vor Jahren, als er eine Ausstellung an einem unterirdischen Bunker im Gesundbrunnen besuchte. Den Ort fand er bald interessanter als die Bilder an den Wänden. Denn hier, in Kellern wie diesen, schwärmt er, sei Geschichte konserviert. Nirgends sonst könne man Geschichte so betrachten.
Vor zehn Jahren gründete Rollmann darum den Verein unter-berlin, um gemeinsam mit anderen Fans der Tiefen unterirdische Bauwerke aufzudecken und deren Geschichte zu deuten. Im alten Braukeller der Königstadt Brauerei kennt er jede Ecke.
„In Oppenheim, Rom und Paris beispielsweise“, sagt Rollmann, „gab es schon seit dem Mittelalter reichlich Tunnel, Gewölbe, Grabstätten und andere Bauten unter der Erdoberfläche.“ Doch unter Berlin kam zunächst einmal nur sumpfiger Boden zum Vorschein, Sand – und Wasser. „Hier gibt es eben alles, was jemand, der unter der Erde baut, nicht brauchen kann“, sagt Rollmann und lacht.
Beim Graben in die Tiefe drang schon nach etwa drei Metern Grundwasser in das Loch, die Berliner konnten es bis Mitte des 19. Jahrhunderts nur schwer heraushalten. Doch nun ging es um Bier, um ein richtig gutes Bier – also mussten die Bemühungen verstärkt werden.
Um 1840 suchten sich die ersten Bierbrauer möglichst günstige Orte: Sie gingen ein wenig hinaus aus der Stadt, dorthin, wo damals noch karges Umland war, an den Prenzlauer Berg oder den Tempelhofer Berg. Hier lag der Boden etwas höher über dem Grundwasserspiegel, sie konnten also graben, ohne befürchten zu müssen, sofort auf Grundwasser zu stoßen.
„Teils standen hundert Mann an einem Loch“, sagt Rollmann und zeigt in die Höhe. Mit einfachen Spaten schaufelten sie in die Tiefe, schmierten die Wände sofort mit Lehm ein, teilweise handbreit, um eventuell eindringendes Wasser abzuhalten. War ein Loch tief genug, vielleicht 15 Meter, stapften sie den Boden fest.
Mit roten Ziegeln zogen die Arbeiter Wände hoch – und zwar doppelt. „Die Wände in den Kellern sind nach dem Thermoskannenprinzip gebaut“, sagt Rollmann. Die Luftschicht zwischen zwei Wänden sollte zusätzlich isolieren. Auch schmale Löcher führten in den ersten Kellern durch die gewölbten Decken nach oben. Man sieht heute noch ihre kreisförmigen Spuren in der Decke. Hierdurch ließen die Arbeiter im Winter den Frost in die Keller kriechen. „Man wollte die Kälte drinhalten“, sagt Rollmann.
Ein halbes Jahr etwa dauerte der Bau eines Kellers wie der der Königstadt Brauerei in Prenzlauer Berg. Dann schleppten die Männer Teile der Braukessel und Lagerfässer in das insgesamt rund 5.500 Quadratmeter große Gewölbe, unten bauten sie sie zusammen. Im Winter sägten die Männer Eisblöcke aus den umliegenden Seen und stapelten sie in Holzpaletten neben den Fässern. Nur dann wurde auch gebraut.
Die Arbeiter standen oft den ganzen Winter über in einfacher Arbeitskleidung in einem kalten, feuchten und dunklen Keller. „Der Job war hart, viele Arbeiter wurden damals krank“, sagt Niko Rollmann. Dennoch: Das mit den Kellern in Berlin schien nun endlich zu funktionieren.
Und so bauten schon bald darauf andere in den Hügeln nördlich und südlich der damaligen Stadtgrenze ähnliche Keller. Brauereien wie Bock, Schultheiss, Pfefferberg, Tivoli oder Patzenhofer produzierten nun auch untergäriges Bier – schon im Jahr 1867 waren es in Berlin 50 Brauereien.
Sie alle hatten große Kellergewölbe angelegt und dürfen somit als Pioniere des Untergrunds gelten. Doch die Industrialisierung schritt voran, neue Techniken kamen auf – und somit auch noch bessere Möglichkeiten, den Untergrund auszubauen.
So erreichte etwa die Schildvortriebsmaschine Berlin. Ein Gerät, in der die Erfinder Marc Brunel und Thomas Cochrane aus Frankreich und Großbritannien nachbauten, wie sich eine Muschel ihren Weg durch das Schiffsholz raspelt. Die Methode wurde mehrmals weiterentwickelt. Mit dieser Maschine entstand der Tunnel unter der Themse.
Dank ihr ging es in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auch in Berlin rasend schnell: „Wenn man vorher einen Tunnel bauen wollte, hieß das: Loch graben, Tunnel hineinsetzen, Loch darüber wieder zuschütten“, sagt Niko Rollmann. Für einen U-Bahn-Tunnel wie in London etwa mussten die Leute früher schon einmal die halbe Stadt aufreißen. Nun aber brauchte es nur einen tiefen Schacht, dort kam die Schildvortriebsmaschine hinein, und dann wurde gebohrt.
Ab 1873 gruben die Berliner an einer der wichtigsten neuen Untergrundbauten: der Kanalisation. Zunächst sollten es zwei Kanäle werden, die nach den Vorbildern von London und Paris von Ost nach West unter der Stadt hindurchfließen. Doch der Stadtplaner James Hobrecht überzeugte die Stadtverordnetenversammlung mit einem System, das die gesamten Schmutzwässer nicht einfach ungeklärt in die Spree einleiten sollte. Er plante, das Schmutzwasser wie ein Spinnennetz durch Gruben unter der Stadt hindurch zu großen Rieselfeldern fließen zu lassen. Mit dem Bau der Kanalisation blieben die Berliner endlich von elendem Gestank und vielen tödlichen Infektionen verschont.
Und weil sich oben auf den Straßen der Verkehr katastrophal quälte, gruben die Berliner bis 1902 auch an der U-Bahn. So streckt sich heute über fast 150 Kilometer ein Netzwerk aus Tunneln und Hochbrücken durch die Stadt.
Die Menschen schaufelten für Wasserleitungen, Gasrohre, Stromkabel – und nicht zu vergessen: für die Rohrpost. „Bis in die 1950er Jahre war die Rohrpost eines der wichtigsten Kommunikationsmittel“, sagt Niko Rollmann. Werner von Siemens baute schon 1865 die erste Rohrpostlinie der Stadt, in den Jahrzehnten danach wuchs und wuchs das System, bis bald Millionen Briefe, Postkarten und Telegramme jährlich durch die Rohre gepustet wurden.
Gerade um die Jahrhundertwende herum wurde gegraben und gebuddelt, was das Zeug hielt. So sehr, dass die Berliner bald extrem genervt waren. Der Industrielle Otto Schmelzer schrieb 1896 in „Der Berliner Untergrund“, der Sommer in Berlin wäre um ein gutes Stück erträglicher, wenn sich nur diese Buddelei vermeiden ließe. Und doch bemerkte er auch: „Der Segen dieser großartigen Werke für die gesamte kulturelle Entwicklung Berlins ist ein schier unberechenbarer.“
Heute ist der Untergrund Berlins zwar nicht, wie es oft heißt, ein riesengroßes zusammenhängendes Bunkerlabyrinth. Vielmehr gibt es viele einzelne Bauten, dazwischen ein paar Netzwerke. „Unter Berlin geht es eher zu wie unter einer Wiese: Hier und da sind einzelne Gänge, Schachten oder Löcher“, sagt Rollmann.
Im alten Königstadtkeller wurde bis 1921 gebraut, dann machte die Brauerei dicht. Außerdem gab es nun schon Kühlzellen, und die Brauer brauchten die Gewölbe in der Tiefe nicht mehr. „So richtig wusste man dann nicht, was man mit den Kellern anfangen sollte“, sagt Rollmann.
Während des Zweiten Weltkrieges wurde ein Teil des Königstadtkellers in einen provisorischen Luftschutzraum verwandelt. Viele Wände wurden eingezogen, teils in halber Raumhöhe, um Druckwellen von Bomben abzufangen. Auch heute noch kann man beim Notausgang mit den grauen Eisentüren die fluoreszierenden Striche und Pfeile an der Wand erkennen, die bei völliger Dunkelheit den Weg weisen sollten. Die Nazis sperrten hier auch Zwangsarbeiter ein. Sie mussten im Keller Bauteile von Radargeräten und andere Kriegsgüter herstellen.
Während der DDR-Zeit wurden dann Pilze gezüchtet, und nach der Wende, als der Keller wieder einmal leer stand, gingen Künstler hinein und bemalten die Wände. In den 90ern soll es hier auch einige wilde Partys gegeben haben.
Seit 2012 nun führen silberne Rohre an den Wänden entlang, sie sollen die Tiefgarage belüften. Eine Ampel zeigt den Autofahrern, wann die Durchfahrt frei ist. Von nebenan klingt Getrommel herüber – in einem anderen Teil des alten Braukellers ist heute ein Jugendclub. Das besondere Bier, mit dem damals alles begann, lagert hier schon lange nicht mehr.