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Archiv-Artikel

„Bis zum letzten Blutstropfen“

Die vorbehaltlose Israelsolidarität der jüdischen Gemeinden in Europa ist ein fataler Fehler, sagt Moshe Zuckermann. Ehud Olmert hat keinen Friedensplan, und die Mehrheit in Israel ist nicht zu einer Lösung in den Grenzen von 1967 bereit

taz: Der aktuelle Waffenstillstand zwischen Israel und den Palästinensern weckt mal wieder zarte Hoffnungen auf eine Friedenslösung im Nahen Osten. Werden sie auch diesmal wieder enttäuscht werden?

Moshe Zuckermann: Jetzt schweigen einmal die Waffen. Das ist erfreulich. Nur: Was will man jetzt politisch machen? Premier Ehud Olmert hat neuerdings am Grab von Ben Gurion ein Bekenntnis zu einem palästinensischen Staat abgelegt. Aber was meint er damit? Ein Angebot, das für die Palästinenser akzeptabel ist? Es ist zu befürchten, dass Olmert über das unselige Erbe Ariel Scharons nicht hinausgehen wird, der den Palästinensern nie mehr als 42 Prozent des Westjordanlandes anzubieten gedachte. Wenn das so ist, dann wird dies nur der nächste gescheiterte Waffenstillstand sein.

Herrscht nicht auf beiden Seiten akute Kriegsmüdigkeit?

Kriegsmüdigkeit allein führt nicht zu konstruktiver Politik. Eine Lösung gibt es nur, wenn sich Israel auf die Grenzen von 1967 zurückzieht. Dagegen würden sich radikale Siedler mit allen Mitteln wehren; der Staat müsste gegen sie vorgehen. Doch dazu ist die Mehrheit in Israel nicht bereit.

Fühlen sich viele Israelis nicht einfach zu bedroht?

Die Selbstmordattentate waren in der Tat eine neue Art von Bedrohung. Als Reaktion darauf hat sich die Position in Israel verhärtet. Das war aber keine naturgegebene Notwendigkeit – man hätte gerade die prekäre Sicherheitslage als Beweis nehmen können, dass es keine Alternative zum Frieden gibt. Stattdessen hat man die Selbstmordattentate zum Anlass genommen, um zu sagen, wir haben auf der anderen Seite ja gar niemanden, mit dem wir reden könnten.

Warum ist das Friedenslager in Israel so verstummt?

Es gibt ein reales Sicherheitsproblem. Entscheidend aber ist: Die zionistische Linke hat sich einfach schlafen gelegt, als Jitzhak Rabin 1992 Premier wurde. Sie dachte, jetzt haben wir es geschafft. Nach der Ermordung Rabins drei Jahre später ist sie aus dem Winterschlaf nicht mehr erwacht, im Gegenteil: Sie ist in das Fahrwasser der Militaristen geraten. Sie hat Verrat an ihrem eigenen Friedensideal begangen.

Worüber soll man denn mit der Hamas verhandeln, die Israel doch vernichten will?

Angenommen, die Hamas ist ein Gegner, mit dem man nicht verhandeln kann. Wie beweist man das am besten? Natürlich, indem man mit so einem Gegner verhandelt – dann sieht alle Welt, an wem ein Kompromiss scheitert. Diese laute Behauptung aber, mit der Hamas könne man nicht verhandeln, nährt in mir den Verdacht, dass man darüber eigentlich ganz zufrieden ist. Auch über die PLO, auch über Arafat wurde jahrzehntelang behauptet, man könne mit ihnen nicht verhandeln.

Welche Angebote sollte Israel der Hamas machen?

Das Paradoxe ist: Wir alle wissen, wie eine Lösung in etwa aussehen müsste – diese Klarheit entstand im Oslo-Prozess. Erstens: der Rückzug auf die Grenzen von 1967, vielleicht mit ein paar Korrekturen im Detail. Zweitens: Räumung der Siedlungen. Drittens: Jerusalem wird Hauptstadt zweier Staaten. Viertens: eine symbolische Lösung für das Rückkehrrecht der Palästinenser, dass also 150.000 bis 200.000 zurückkehren können.

Viele fürchten, selbst eine solche Lösung würde wenig daran ändern, dass die Araber die Juden hassen. Bleibt Israel für immer eine belagerte Festung?

Ich neige zu der Annahme, dass die Situation, in der wir uns befinden, nichts mit „dem Wesen“ der Araber oder „dem Wesen“ der Juden zu tun hat, sondern mit den historischen Ereignissen. Außerdem: Den Krieg haben wir ausprobiert. Das Einzige, was wir noch nicht ausprobiert haben, ist der Friede. Israel ist in seiner Existenz nicht bedroht. Konventionell kommt niemand gegen Israel an. Und wer einen nuklearen Konflikt mit Israel sucht, der weiß, dass er innerhalb von sechs Stunden von der Landkarte radiert ist.

Unterschätzen Sie nicht den Hass auf arabischer Seite?

Der Hass speist sich aus dem Nahostkonflikt, nicht umgekehrt. Natürlich weiß ich, dass es zwei, drei Generationen brauchen wird, bis der Hass verschwindet, wenn der Nahostkonflikt einmal gelöst ist. Aber der Friede ist die Bedingung für den Abbau des Hasses – wir können nicht erwarten, dass erst der Hass verschwinden muss, bevor wir Frieden machen.

Im Westen findet die harte Haltung der israelischen Regierung inzwischen immer mehr Zustimmung, weil der Nahostkonflikt mit dem „Krieg gegen den Terror“ und der grassierenden Angst vor den Muslimen in Verbindung gesetzt wird. Wird dadurch der Nahostkonflikt noch verschärft?

Auf Israel wird etwas projiziert, was mit der realen Weltlage nichts zu tun hat – und zweitens ist natürlich auch die reale Weltlage total ideologisiert. Israel selbst hat das zur Selbstlegitimation aufgegriffen, indem es sich zur Speerspitze des westlichen Kampfes gegen den „Islamofaschismus“ stilisierte.

Ist das denn so falsch?

Es geht um eine territoriale Frage! Das hat mit „Islam und dem Westen“ gar nichts zu tun. Oder höchstens insofern, als es bei dem „Krieg gegen den Terror“ letztendlich ebenso um die Beherrschung von Räumen geht und nicht um Werte.

Welche Auswirkungen haben all diese Entwicklungen denn auf die jüdischen Gemeinden in Europa?

Was ich nicht ertragen kann, ist, dass die jüdischen Gemeinden in Europa ihren Kampf bis zum letzten Blutstropfen auskämpfen – und zwar bis zu unserem letzten Blutstropfen, dem der Juden in Israel. Ein Grund dafür: Die meisten Israelis finden es unmöglich, dass man als Jude in Deutschland oder Österreich noch leben kann – nach der Schoah. Im Umkehrschluss fühlen sich die jüdischen Gemeinden in Deutschland verpflichtet, noch jeden Aspekt der israelischen Politik zu unterstützen.

Spielt da nicht auch die Angst vor einem „neuen Antisemitismus“ eine Rolle?

Es gibt den Antisemitismus als sozialpsychologisches Phänomen – der braucht oft nicht einmal Juden. Aber der Antisemitismus wird heute auch durch die Geschehnisse im Nahen Osten gespeist. Ich sage nicht, dass der Nahostkonflikt den Antisemitismus schafft. Aber die israelische Politik verleiht dem Antisemitismus Legitimation. Da kann ich nur sagen: Bravo, tolle Leistung!

Und wie wird darauf reagiert? Indem man versucht, jede Kritik an Israel mit Antisemitismus gleichzusetzen. Sogar Juden wie ich, die Israel kritisieren, werden als objektive Zuträger des Antisemitismus bezeichnet – absurderweise sogar von nichtjüdischen Israelfans, die den behaupteten Antisemitismus benützen, um sich selbst zu profilieren.

Angesichts all dessen: Ist Israel eher gut oder eher schlecht für die Juden?

Der Zionismus ist aus der Logik der Nationalbewegungen des 19. Jahrhunderts heraus entstanden. So gesehen müsste man fragen: War der Nationalstaat gut für die Menschen? Ich bin mir nicht sicher. Nach der Schoah war Israel eine Notwendigkeit für die Juden. Heute freilich sind jüdische Menschen nirgends so bedroht wie in Israel. Lassen Sie es mich so sagen: Wenn wir es nicht schaffen, Frieden im Nahen Osten herzustellen, dann wird Israel etwas sehr Schlechtes für die Juden gewesen sein.

INTERVIEW: ROBERT MISIK