: Der Welten-Vernetzer
Literatur als Mittel, den Überblick zu behalten, sich aber auch umfassend für die Welt zu interessieren: eine Begegnung mit Richard Powers, dem jetzt schon klassischen Autor der Wissensgesellschaft
VON TOBIAS RAPP
Man kann Richard Powers beneiden. Denn was heißt es, in der vielbeschworenen Wissensgesellschaft zu leben? Es heißt vor allem, nie Zeit zu haben, immer in Eile zwischen all diesen faszinierenden Wissensfeldern hin und her zu springen, Musik hier, Geschichte da, Astrophysik hier, Neurowissenschaft da, Psychologie hier, Soziologie da, ganz zu schweigen von den zahllosen Anregungen und Ideen, auf die man im Internet stößt: und jenseits der einfachen Benutzung möchte man ja auch gerne wissen, wie so ein Computer überhaupt funktioniert. Den Weltlauf gilt es dabei auch noch im Auge zu behalten. Wir alle haben dieses Problem, und die Art, wie Powers sich ihm stellt, macht einen nicht zu vernachlässigenden Teil des Charmes seiner Bücher aus. Literatur ist ihm eine große Verknüpfungsmaschine.
Richard Powers ist 49 Jahre alt, groß und recht schlank, und sein graues Haar liegt in interessantem Kontrast zu seinem Gesicht, das sich jungenhafte Züge bewahrt hat. Nun war er für einige Tage in Deutschland auf Lesereise, und die Anstrengung sieht man ihm an, als er im Literarischen Colloquium Berlin zum Gespräch empfängt. Trotzdem nimmt er sich viel Zeit. Er spricht leise, durchdacht und druckreif. „Literatur“, sagt er, „ist der Ort, wo die Transformation des Gehirns beginnt.“ Das sind große Worte. Man kann sie ihm glauben, denn seine Bücher lösen diesen Anspruch ein. In Deutschland mögen so unterschiedliche Autoren wie Frank Schätzing, Dietmar Dath oder Daniel Kehlmann auf der gleichen Baustelle arbeiten. Doch es gibt keinen zeitgenössischen Schriftsteller, der mit ähnlich stilistischer Eleganz und Souveränität geistes- und naturwissenschaftliche Diskurse an einem immer genau lokalisierbaren Ort zu Geschichten verknotet wie der US-Amerikaner Richard Powers.
Tatsächlich folgen Powers Gedanken im Gespräch ganz ähnlichen Bahnen wie in seinen Büchern. „Die Versuchung eines jeden von uns ist es, zu glauben, das Selbst sei verlässlich, komplett und abgeschlossen. Jeder glaubt das. Wir alle fühlen uns unserer individuellen Geschichte verbunden. Die Neurowissenschaft sagt: Das ist eine Illusion. Der Job des Bewusstseins ist es, diese vielen hundert Module zusammenzufassen, dieses riesige, lärmende Parlament des Ichs. Es soll uns das Gefühl geben, alles würde harmonisch zusammenwirken.“ Kunst sollte diesem Glauben den Boden unter den Füßen wegziehen. „Das kann einen dann auf neues Gebiet führen. Wo das Ich ein work in progress ist, ein Gemälde im Sand, eine musikalische Improvisation.“ Wissenschaft und Künste, zusammengeführt in der Literatur als Verbündete der Aufklärung.
Mit seinem Roman „Der Klang der Zeit“ ist er vor drei Jahren in Deutschland berühmt geworden, ein mächtiger 800-Seiten-Roman, der fast 300.000 Stück verkauft hat, eine amerikanische Familiengeschichte, die ihren Bogen von den Vierzigern in die Achtziger spannt. Das ist eine gewaltige Verkaufszahl für ein komplexes Buch, das von einer interracial marriage erzählt und einer Familie, die ihre emotionalen Bindungen über die Liebe zur europäischen Musik konstruiert – und von den daraus resultierenden Problemen. Wie schwierig ist es, als Sänger des deutschen Kunstliedes ernst genommen zu werden, wenn man keine weiße Hautfarbe hat? Sein neuer Roman „Das Echo der Erinnerung“ (Fischer Verlag, 528 Seiten, 19,90 Euro) ist in diesem Herbst erschienen (Man sollte allerdings nicht auf die Verlagsmogelei reinfallen: Auch wenn das Buch aussieht, als sei es der zweite Teil von „Der Klang der Zeit“ und auch einen ähnlichen Titel verpasst bekommen hat – „Das Echo der Erinnerung“ heißt im Original „The Echo-Maker“ –: es ist ein eigenständiges Werk. Never judge a book by its cover!).
Powers spricht, wenn man ihn nach der Arbeit an seinen Büchern fragt, nie von „schreiben“. Er sagt: „komponieren“. Bevor er einen Roman beginne, erzählt er, fräse er sich anderthalb Jahre lang in das Wissensfeld ein und lese und sammle alles, was ihm zum anvisierten Thema in die Hände falle, um dann so lange mit dem angehäuften Wissen zu spielen, bis sich die Figuren auftun. Den Roman selbst spreche er dann in das Spracherkennungsprogramm seines Computers. Er habe seit Jahren nicht mehr mit einer Tastatur gearbeitet. Er komme vom Klang. „Mein Gehirn fühlt sich am stärksten zur Musik hingezogen.“
Tatsächlich ist Powers über die Musik zum Schreiben gekommen. Eigentlich wollte er Wissenschaftler werden und studierte Physik, merkte aber bald, dass er für die nötige Spezialisierung in diesem Feld die Musik würde opfern müssen – und entschied sich, zur Literaturwissenschaft zu wechseln. Nach dem Ende seines Studiums begann er als Computerprogrammierer zu arbeiten, in Boston, gegenüber von einem großen Museum, das er regelmäßig besuchte und wo er schließlich ein Bild sah, das ihn zu seinem ersten Roman inspirierte: August Sanders Foto „Jungbauern auf dem Weg zum Tanz“. Acht weitere Romane folgten. Mittlerweile lebt er in Urbana, Illinois, einem kleinen Kaff drei Autostunden von Chicago entfernt. Ein Ort mit 30.000 Einwohnern, einer Universität und der drittgrößten Bibliothek der USA.
Dass er zur Erläuterung seines Literaturbegriffs ausgerechnet das Gehirn heranzieht, hat mit „Das Echo der Erinnerung“ zu tun, seinem neuen Roman, den zu bewerben er zusammen mit seiner Frau nach Deutschland gekommen ist. Denn im Zentrum dieses Buchs steht die Neurophysiologie des Gehirns. „Das Echo der Erinnerung“ handelt von Mark, einen jungen Schlachterei-Angestellten, bei dem nach einem Autounfall das sogenannte Capgras-Syndrom festgestellt wird, ein seltener neurologischer Defekt, der dazu führt, dass er all die Menschen und Dinge, die ihm nahe stehen, nicht mehr wiedererkennt. Sie sehen aus wie in seiner Erinnerung, sie verhalten sich so, sie sind es aber nicht. Mark glaubt, die Regierung hätte Doppelgänger geschickt. Seine verzweifelte Schwester Karen wendet sich an den New Yorker Hirnforscher Weber, der in Mark einen interessanten Fall wittert.
Wie in allen Powers-Romanen ist dies nur ein Strang (und zwar einer, der sehr Kompliziertes sehr verständlich macht!), in den noch eine ganze Reihe anderer Geschichten hineingeflochten sind. Etwa wie sich die Post-9/11-Welt im amerikanischen Kernland anfühlt. Dort, wo der Krieg in Afghanistan und im Irak vor allem bedeutet, dass man einberufen wird. Dort, wo nie viel war und nie viel sein wird, man aber irgendwie durchkommen muss. Wie ein Grundrauschen laufen die politischen Ereignisse der Zeit zwischen den Anschlägen vom 11. September und dem Beginn des Irakkrieges mit.
„Das Echo der Erinnerung“ spielt in Kearney, Nebraska, einem kleinen Kaff im mittleren Westen der USA, wo jedes Frühjahr eine halbe Million Kraniche Rast machen auf ihrem Weg nach Norden. Ein leeres Land, menschenleer, aber auch unbeschrieben, das Powers kunstvoll mit zwei uramerikanischen Geschichten auflädt: dem Expansionsdrang des Kapitalismus wie dem Bedürfnis, sich in die Natur zurückzuziehen, eins mit ihr zu werden. Ein Unternehmen möchte die Kraniche zu einer Touristenattraktion machen, eine Gruppe militanter Umweltschützer wehrt sich dagegen. Die endlose, maisgefüllte Leere von Nebraska wiederum – dieses „weltgrößte Denkmal für die Agarindustrie“, wie Powers es nennt – bildet wiederum den Hallraum wie auch die machtvolle Illustration der Schwierigkeiten des capgraskranken Mark, seine Erinnerungen in die dazu gehörigen Gefühle einrasten lassen zu können.
„1850 plus 1920“, sagt Powers halb im Scherz, wenn man ihn bittet zu umreißen, wo er sich literarisch verorten würden. Am Anfang seiner Laufbahn habe die Liebe zu den Schriftstellern der klassischen Moderne gestanden, doch nun entdecke er mehr und mehr den Realismus. Wenn man so will, kann man Powers’ Projekt tatsächlich als sozialen Realismus verstehen: nur eben nicht für die entstehende Industriegesellschaft wie bei Dickens oder Zola, sondern für die Wissensgesellschaft des beginnenden 21. Jahrhunderts. Die Literatur als Mittel, den Überblick zu behalten, als Vermittlerin zwischen den Partikularinteressen des umfassend an der Welt Interessierten.
Interessanterweise ist Powers in Deutschland wesentlich erfolgreicher als in den USA, wo er als schwierig gilt. Mit „Das Echo der Erinnerung“ könnte sich das allerdings ändern, das Buch hat gerade den National Book Award bekommen, einen der zwei wichtigsten Literaturpreise des Landes.
Die Glückwünsche nimmt Powers mit freundlicher Gelassenheit entgegen. „Laut dem Philosophen James Carse gibt es zwei Spiele, die wir Menschen spielen: endliche und unendliche. In endlichen Spielen spielen wir nach einem bestimmten Regelwerk, um zu gewinnen. In unendlichen Spielen spielen wir mit ständig wechselnden Regeln – um weiterzuspielen. Der Markt versucht die Literatur zu einem endlichen Spiel zu machen, mit Preisen, Verkaufszahlen, wer gewinnt. Das ist sie aber nicht. Tatsächlich sitzt man zu Hause und spielt weiter, erfindet weiter. Der Hauptgrund zu schreiben ist doch weiterzuschreiben.“